komm raus, halunke! von JOACHIM SCHULZ
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„Das ist doch nicht zu fassen!“ Gerade eben hatte alles noch nach einem beschaulichen Samstagnachmittag ausgesehen. Ich war zu Raimund gefahren. Wir wollten am Fluss spazieren gehen und anschließend Viscontis „Il Gattopardo“ auf Video anschauen. Kaum aber hatten wir den Goetheplatz überquert, war die Beschaulichkeit perdu.

„Was ist denn?“, fragte ich. Er war wie elektrisiert vorm Café Berger stehen geblieben. „Das da … das ist mein Fahrrad!“ – „Dein Fahrrad?“ – „Das irgendwelche Verbrecher mir vor drei Wochen geklaut haben!“ Ich runzelte die Stirn. „Das soll dein Rad sein?“ – „Aber sicher! Die Marke, die Farbe – das ist mein Rad!“ – „Und diese Schrammen? Ich kann mich nicht erinnern, dass dein Fahrrad solche Schrammen gehabt hätte.“ – „Pah!“, brummte Raimund verächtlich: „Natürlich hat der Lump den Rahmen erst nach dem Diebstahl zerkratzt, um mir die Identifizierung zu erschweren.“

„Hm“, machte ich, „na gut. Und was sollen wir jetzt tun? Einen Bolzenschneider besorgen?“ Ich deutete auf die Kette, mit der das Rad an einem Gitter festgebunden war. „Nein“, sagte Raimund: „Wir warten, bis der Halunke aus dem Café kommt, und dann machen wir ihn fertig!“ – „Ihn fertig machen?“, staunte ich: „Was soll das denn bedeuten?“ – „Was weiß ich“, sagte Raimund: „Wir erwürgen ihn, wir brechen ihm alle Finger, wir … keine Ahnung, uns fällt schon was ein.“ – „Ich bitte dich!“, sagte ich: „Seit wann gehören wir denn zu den kaltblütigen Fertigmachern? Wäre es nicht das Beste, die Polizei zu rufen?“ – „Pff!“, schnaubte Raimund: „Die unternehmen doch sowieso nichts! Außerdem habe ich die Sache ja gar nicht angezeigt.“ – „Du hast …“, stotterte ich: „Aber warum nicht?“ – „Weil es nichts bringt!“

Er hielt einen Augenblick inne und dachte nach. „Pass auf“, sagte er dann: „Wir verzichten auf das Erwürgen und das Fingerbrechen. Aber wenigstens beschimpfen will ich den Strolch! So richtig mit Schmackes! Allein schon, um mich dafür zu rächen, dass mir in den letzten zehn Jahren drei Räder geklaut worden sind. Wir müssen ja sowieso auf ihn warten, damit er das Schloss aufsperrt.“

Wir hockten uns auf zwei Betonpoller in der Nähe. Es war ein kühler Tag. Ich fror. „Komm raus, Halunke!“, zischte Raimund. Wir rauchten, langweilten uns und warteten. Nach fast zwei Stunden verließ eine junge, sehr hübsche Frau das Café und ging zu dem Rad. „Da ist dein Halunke!“, flüsterte ich belustigt: „Also vorwärts!“ Raimund erhob sich verdattert und trat zu der jungen Frau. Sie blickte ihn an. „Hallo …“, sagte Raimund tonlos. „Hallo!“, sagte sie freundlich und lächelte. Sie betrachtete ihn eine Zeit lang, doch weil er nichts mehr sagte, schwang sie sich schließlich aufs Fahrrad und fuhr davon.

„Was war denn das für eine spektakuläre Szene?“, fragte ich, als er zurückkam. Er zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich hab ich mich geirrt. Es war doch nicht mein Rad. Du glaubst doch nicht, dass diese bezaubernde Frau …“ – „Nein“, grinste ich, „bestimmt nicht.“ Und damit stiefelten wir zurück in seine Wohnung, schalteten den Videorecorder an und schauten „Il Gattopardo“, wobei Raimund jeden Auftritt Claudia Cardinales mit einem leisen Seufzen begleitete.