Protest nach Noten

Fabian Hambüchen muss bei der Turn-Weltmeisterschaft in Melbourne um seine Final-Teilnahme am Reck bangen, weil die Kampfrichter nachträglich den Russen Nikolai Krukow hochstufen

AUS MELBOURNE JÜRGEN ROOS

Fabian Hambüchen hatte soeben glücklich die Rod-Laver-Arena in Melbourne verlassen, die Verantwortlichen des Deutschen Turnerbundes (DTB) waren dabei, eine verhalten positive Bilanz der Männer-Qualifikation bei diesen Weltmeisterschaften zu ziehen. Europameister Hambüchen (Wetzlar) als Achter im Reckfinale, Eugen Spiridonov (Bous) im Mehrkampffinale – damit hätte die deutsche Turnerschaft leben können. Plötzlich aber tauchte die korrigierte Fassung des Reck-Ergebnisses auf, und die Verwirrung nahm ihren Lauf. In der neuen Version wurde Hambüchen nur noch auf Platz neun geführt, hätte um die Winzigkeit von zwölf Tausendstel Punkten die Chance verpasst, an seinem Spezialgerät um eine Medaille zu turnen. Eine mittlere Katastrophe. Für Turner und Turnerbund.

Dem DTB-Präsidenten Rainer Brechtken, Delegationsleiter Wolfgang Willam und Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch stand die Fassungslosigkeit im Gesicht geschrieben, Willam verschwand sofort im Bauch der Melbourner Tennis-Arena, um die Sache zu klären. Das Problem: Klar war bis gestern um Mitternacht überhaupt nichts. Der DTB hat einen Protest eingelegt, den der Weltturnverband FIG heute behandeln muss.

Die Fakten dieser erneuten Wertungsaffäre: Fabian Hambüchen hatte für seine Reckkür 9,60 Punkte erhalten, die für den Einzug ins Finale gereicht hätten. Unterdessen korrigierte der Supervisor Sawao Kato (Japan) allerdings die Ausgangswertung für Hambüchens Konkurrenten Nikolai Krukow von 9,70 auf 10,00 Punkte, die Wertung des Russen stieg von 9,35 auf 9,65, er überholte Hambüchen. Diese nachträgliche Veränderung wäre rechtens, hätte der russische Trainer sich nicht beim Supervisor, sondern beim Reck-Oberkampfrichter gemeldet und der mündlichen Klage eine schriftliche folgen lassen. Hat er aber nicht. Gegen diese Nichteinhaltung der Protestregeln hat nun der DTB seinerseits Protest eingelegt – und zwar beim obersten FIG-Schiedsgericht, der Jury d’Appel. „Wir als dritter Betroffener müssen die Möglichkeit haben, den Vorgang nachzuprüfen“, sagte Rainer Brechtken, „und das geht nur, wenn etwas Schriftliches vorliegt.“ Womit der DTB-Präsident zweifelsohne Recht hat – durchsichtiger wird die ganze Angelegenheit deshalb nicht.

Wolfgang Hambüchen, Vater und Trainer des Reck-Europameisters, reagierte auf die Schreckensnachricht mit Sarkasmus. „Das Makabre ist, dass nach Athen eigentlich ein eindeutiger Verfahrensweg festgelegt wurde. Und der ist hier nicht eingehalten worden“, sagte er. Auf Druck des IOC hatte der FIG-Präsident Bruno Grandi handeln müssen, bei den Olympischen Spielen 2004 hatten sich die Wertungsskandale gehäuft. Besser geworden ist offensichtlich nicht viel. Das IOC wird es mit Interesse zur Kenntnis nehmen, den Zuschauern wird wie immer jegliches Verständnis fehlen. Sie möchten einfach nur wissen, ob Hambüchen das Reckfinale erreicht hat oder nicht. Drei Lösungen sind derweil möglich. Erstens: Die FIG lehnt den deutschen Protest ab, Hambüchen ist draußen. Zweitens: Die FIG gibt dem deutschen Protest statt, Krukow ist wieder draußen. Und drittens: Die FIG erkennt an, dass Krukow die bessere Wertung verdient hatte, entscheidet im Sinne beider Sportler und lässt neun Turner im Finale zu. Klar ist, dass der große Weltverband bei allen drei Lösungen der Verlierer ist.

Sollte Hambüchen nicht im Finale turnen dürfen, wäre auch der Deutsche Turnerbund ein Verlierer. In Spiridonov stünde nur ein Turner im Mehrkampffinale, dem heute unter guten Umständen Daria Bijak (Köln) oder Kim Bui (Tübingen) ins Frauenfinale folgen – das wäre eine ziemlich magere Bilanz dieser Titelkämpfe. „Was das persönlich für den Sportler Fabian Hambüchen bedeutet, daran möchte ich gar nicht denken“, sagte Cheftrainer Andreas Hirsch, reichlich blass um die Nase.