Das innere System des Wahns

IDENTITÄTSVERLUST Katie Mitchell inszeniert an der Schaubühne „Die gelbe Tapete“ von Charlotte Perkins Gilman. Für die Geschichte einer Frau, die in den Wahnsinn gleitet, wählt sie einen sehr technischen Zugang

„Die gelbe Tapete“ wurde oft feministisch rezipiert. In der Inszenierung aber fehlt die gesellschaftliche Ebene – häufig wird hier aus der Innenperspektive der Protagonistin erzählt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Auf der Bühne ist es zweimal vorhanden: das Zimmer mit jener gelben Tapete, die der 1892 geschriebenen Erzählung von Charlotte Perkins Gilman seinen Titel gab. Im ersten Zimmer ist das verschlungene Ornament der Tapete intakt – für seine Bewohnerin (Judith Engel) aber, die sich hier von Abgeschlagenheit und Teilnahmslosigkeit nach der Geburt eines Sohns erholen soll, werden seine wild wuchernden Blumen bald zu einem Dickicht, in dem sich ihre Gedanken verfangen.

Im zweiten Zimmer ist die Tapete bereits von den Wänden gekratzt, Ergebnis eines verzweifelten Befreiungsversuchs der Eingeschlossenen. Zwischen den beiden Räumen breitet sich die Geschichte ihres Wahns aus: die Entdeckung einer zweiten Frau hinter der Tapete, gefangen wie sie selbst.

Es ist nicht einfach, den Einstieg in Katie Mitchells Inszenierung der Geschichte zu finden, die von nun an in der Schaubühne aufgeführt wird. Denn zunächst irritiert der technische Aufwand, mit dem Mitchell das Drama um den Verlust der Außenwelt auf unterschiedlichen akustischen und visuellen Ebenen in der Schaubühne simultan entfaltet. Doch im Verlauf des 90-minütigen Abends entwickelt die Erzählweise ihren eigenen Sog.

Da sieht man zum einen auf der Bühne die überzeugend zerbrechlich und zermürbt spielende Judith Engel, die sich auf engstem Raum bewegt, die gegen die tapezierten Wände läuft, die mit immer kürzer werdenden Schritten zwischen den Möbeln auf und ab tigert. Sie ist dabei im realen Raum der Bühne dicht umstellt von zwei bis drei Kameraleuten, die sie aus verschiedenen Perspektiven beobachten – und von weiteren Hilfskräften, die Möbel und andere Objekte kameragerecht zurechtrücken. Die Schauspielerin bewegt sich, als würde sie diese nicht wahrnehmen, und verdoppelt damit die Unfähigkeit der Protagonistin, auf ihre Umgebung zu reagieren.

Über dem Bühnengeschehen sieht man sie auf einer Leinwand allein im gelben Zimmer, ohne dass dort je das Filmteam in den Bildausschnitt gerät – logistisch eine Meisterleistung.

In dieser Einsamkeit wird sie unterstützt von einer zweiten Schauspielerin, Ursina Lardi, die in einer Tonkabine ihre Gedanken spricht, das Misstrauen gegen die Umwelt, ihre Unterstellungen gegenüber ihrem Mann und dem Kindermädchen. Der innere Text legt sich, obwohl fast intim eingesprochen, laut über alle Dialoge, die ins Unhörbare gemurmelt sind. Wieder dupliziert die technische Umsetzung den Rückzug der Frau in ihre Gedanken und Projektionen.

Die Erscheinungen aber, die sie meint hinter der Tapete zu sehen, werden auf der Bühne wiederum von einer realen Schauspielerin gespielt. Wirklichkeit und Wahn setzt Mitchell also mit den gleichen Mitteln ins Bild, und damit zieht sie uns, den Zuschauer, immer mehr auf die Seite der Eingeschlossenen. Die Erzählweise selbst wird zu einer der parallelen Realitäten, in denen die eingebildeten Figuren die gleiche physische Präsenz und Daseinsberechtigung haben wie die der Frau, aus deren Ängsten sie steigen.

Das ist faszinierend, oft auch romantisch schön, als ob man dem Making-of eines Gespensterfilms zuschauen würde. Aber es bleibt auch ein überraschend technischer Zugang zum System des Wahns und seiner eigenen Realitätskonstruktion. Katie Mitchell versucht nicht, psychologisch oder aus einer sozialen Analyse heraus zu erklären, was die Protagonistin in diesen Verlust der Welt hineintrieb.

Das bedeutet zwar zum einen, dass sie auf eine Instanz verzichtet, die das Geschehen beurteilt. Daraus folgt zum anderen aber auch, dass jene Ebene der Erzählung entfällt, die „Die gelbe Tapete“ zu einem frühen Schlüsseltext der feministischen Literatur hat werden lassen. Das gesellschaftliche System, das die Protagonistin von ihren Handlungsmöglichkeiten abgeschnitten und in die Dachkammer verbannt hat, taucht auf der Bühne kaum mehr auf. Es gibt nur noch die Innenperspektive.

In der Wahl der literarischen Texte, die sich die Regisseurin Katie Mitchell vornimmt, zeigt sich eine große Affinität zu Zuständen der Depression und der Melancholie. Das „Wunschkonzert“ von Franz Xaver Kroetz und „Die Ringe des Saturn“ von W. G. Sebald gehören dazu. Zum Theatertreffen im Mai ist die Regisseurin mit „Eine Reise durch die Nacht“ eingeladen, nach einer Erzählung von Friederike Mayröcker, die sie im Schauspiel Köln inszeniert hat. Die filmischen und akustischen Mittel – alle Geräusche werden live auf der Bühne mitproduziert und verstärkt – ziehen durch den Kontext, in dem sie stehen, die Verlässlichkeit der Wirklichkeit und der Wahrnehmungsmuster in Zweifel. Das gelingt auch in der Berliner Inszenierung. Dennoch hätte man gern mehr über die Vorgeschichte erfahren, die die Frau ohne Namen in das Zimmer mit der gelben Tapete gebracht hat.

■ Schaubühne, Kurfürstendamm 153, wieder am 19. 2., 31. 3., 1. 4.