Sparen in Estland: Das Ende der Talfahrt

Die Krise hatte das Land voll erwischt. Alle haben ohne Murren gespart. Nun feiert das Land den neuen Aufschwung. Doch nicht alle Bürger profitieren von ihm.

Talinn, die Perle des Baltikums: Für manche Esten kein Ort, den sie sich leisten können. Bild: rtr

TALINN taz | "Müüa" heißt sie auf Estnisch, die bittere Rache für ein fröhliches Leben auf Pump in Zeiten des Aufschwungs. "Müüa" - "zu verkaufen" - ist eines der wenigen Worte, die sich auch weniger sprachbegabte Ausländer in Estland schnell merken können: Ob im Strandbad Pärnu, in der Tallinner Altstadt oder in den Fischerdörfchen bei Käsmu, überall kann der aufmerksame Beobachter die Schilder entdecken. Und überall erzählt man Geschichten von den Optimisten, die hohe Kredite aufgenommen haben und sie jetzt nicht mehr zurückzahlen können. "Vertrauen" wurde noch 2008 ganz groß geschrieben, ohne Bonitätsprüfung konnte man Kredite aufnehmen, bis zu 10.000 Kronen (640 Euro) einfach per SMS. Dann steckte das 1,3-Millionen-Volk plötzlich tief in der Wirtschaftskrise und viele Menschen verloren nicht nur ihre Arbeit, sondern auch Haus und Hof.

Nun propagieren Regierung und Banken erneut den Aufschwung. Die Menschen im Lande sollten endlich wieder optimistischer sein, forderte Präsident Toomas Hendrik Ilves am 20. August, dem Tag der Unabhängigkeit. Die Krise in Estland sei vorbei!

Die Nerven behalten

Wirtschaftskraft: Estland hat lange zu den Ländern Europas mit dem höchsten Wachstum gezählt. Noch im Jahr 2006 verzeichnete es ein Wirtschaftswachstum von 10 Prozent - im Jahr 2009 waren es dramatische minus 14,1 Prozent. Ähnliches gilt für das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Zeitraum von 2000 bis 2007 ist es um durchschnittlich über 8 Prozent pro Jahr gestiegen. Dann sank das BIP von 16,1 Prozent im Jahr 2008 auf 13,7 im Jahr 2009. Im Laufe des Jahres 2009 hat sich die Talfahrt des BIP jedoch verlangsamt und ist im vierten Quartal im Vergleich zum Vorquartal bereits wieder leicht gewachsen. Aktuell wird ein Wachstum von 0,9 Prozent für das Jahr 2010 vorausgesagt.

Schulden: Estland hat die Krise deutlich besser überwunden als seine beiden baltischen Nachbarn, da es in den "guten Jahren" Reserven aufgebaut und nicht zu sehr der Versuchung nachgegeben hat, im Aufschwung alles Erwirtschaftete gleich wieder auszugeben. Das, gepaart mit einem drastischen Sparkurs, hat dem Land sehr geholfen. Die niedrige Staatsverschuldung von 9,6 Prozent kann für das restliche Europa als vorbildlich gelten.

Preise: Die Inflation lag 2008 besonders hoch, bei 10,6 Prozent. Im Jahr 2009 sank sie auf minus 0,2 Prozent, 2010 wird sie voraussichtlich 1,3 Prozent betragen.

Arbeitslosenrate: Die Arbeitslosenzahl ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen, von 5,5 Prozent im Jahr 2008 über 13,8 Prozent im Jahr 2009 auf voraussichtliche 15,8 Prozent im laufenden Jahr. Besonders betroffen sind junge Leute mit geringer Qualifikation.

Sparmaßnahmen: Schon vor der Krise hatte der estnische Staat die Ausgaben möglichst knapp gehalten, die bürokratischen Strukturen verschlankt und die eingesparten Mittel als Rücklagen genutzt. Als die Wirtschaftskrise ausbrach, ging es radikal ans Sparen. Der Staatshaushalt wurde massiv gekürzt, die Löhne sanken im Schnitt um zehn Prozent, und auch viele Gesundheits- und Sozialleistungen wurden gestrichen. (rz)

Toomas Metsis, Dolmetscher und Reisebegleiter, wirkt an sich nicht gerade wie ein Optimist. Er hat Bedenken, dass es regnen könnte, dass das Gepäck der Reisegruppe verloren gehen könnte. Doch diesmal kann sich der 50-Jährige auf dem Deck des Schnellboots zur Insel Naissaar behaglich zurücklehnen. Nicht nur, weil die Reisegruppe, die er heute begleitet, doch noch rechtzeitig die Fähre erwischt hat. Vor allem auch, weil diese Reisegruppe ein weiterer Beweis dafür ist, dass er alles richtig gemacht hat.

Noch im Frühjahr dieses Jahres hatte Toomas große Geldsorgen. Schon seit 2006 bekam der Freiberufler immer weniger Aufträge von der EU, ab November 2009 blieben sie ganz aus. Eine Zeit lang reichte das angesparte Geldpolster, dann wurde es eng. Freunde rieten ihm, wieder Lehrer zu werden. Doch Toomas beschloss, ruhig zu bleiben, die Ausgaben auf das Nötigste zu reduzieren. "Ich habe schon ganz andere Krisen erlebt", sagt er stolz. Er hat die Flaute der letzten Monate ausgesessen. Parallel bemühte er sich um neue Auftraggeber. Heute übersetzt er für Wirtschaftsunternehmen und Reisegruppen: "Ich kann mich vor lauter Arbeit kaum retten." Toomas sieht der Zukunft gelassen entgegen, ganz wie Präsident Ilves es wünscht. "Ich bekomme zwar insgesamt weniger Geld, aber ich spare ja dadurch, dass ich keine Zeit habe, etwas auszugeben", sagt er breit lächelnd.

Radikal sparen, das war auch die Strategie der Regierung, als die Wirtschaftskrise ausbrach. Der Staatshaushalt wurde massiv gekürzt, die Löhne sanken im Schnitt um zehn Prozent und viele Gesundheits- und Sozialleistungen wurden gestrichen. "Solche extremen Maßnahmen wären in vielen westeuropäischen Staaten nur schwer durchzusetzen gewesen", vermutet Alexander Welscher von der Deutsch-Baltischen Handelskammer (AHK): "Die Esten aber haben alles still mitgemacht und sich gesund gespart - und sind nun fit für den Euro."

Auch Maia Smoslova hielt zunächst still, als ihr Arbeitgeber versuchte, sein Restaurant mit drastischen Kürzungen vor der Schließung zu bewahren. Die Köchin zahlt immer noch den Dispo-Kredit zurück, den sie aufnehmen musste. Sie denkt nicht gerne an das Frühjahr 2010. Während ihres Urlaubs im März kam die Nachricht, dass sie und ihre Kollegen in diesem Monat das Gehalt nicht ausgezahlt bekämen. Aus einem Monat wurden drei. Zuerst überzog Maia ihr Konto, solange es ging. Als der Dispo ausgeschöpft war, verkaufte sie ihr Fahrrad. Am Ende zahlte sie einen Monat lang keine Miete und Nebenkosten. Zum Glück ging dann wieder Geld ein - aber monatlich 30 Prozent weniger als bisher.

Maia hat seither enorm sparen müssen und zahlt Schritt für Schritt ihre Schulden ab. Langsam wird die Summe überschaubar: "Es ist zu spüren, dass es uns besser geht: Meine Freunde und ich treffen uns ab und zu wieder in Cafés." Von Aufschwung würde sie allerdings noch nicht sprechen, denn davon komme bei den Arbeitnehmern bisher nichts an: "Ich sehe uns eher am Ende der Talfahrt."

Das Vertrauen verloren

Das Vertrauen zu ihrem Arbeitgeber ist für Maia seither nachhaltig gestört. "Ich fühle mich betrogen", sagt sie. "Wenn sie mich wenigstens vorher gewarnt hätten. Dann hätte ich nicht mein ganzes Urlaubsgeld verprasst." Maia fing daher sofort an, sich nach einem neuen Job umzusehen. Und tatsächlich bekam sie vor wenigen Tagen das Angebot, in einem anderen Restaurant Küchenchefin zu werden.

"Wenn man seinen Job richtig gut macht, dann kann man immer auch neue Arbeit finden", glaubt die resolute 33-Jährige. Die Statistiken scheinen ihr Recht zu geben. "Rund 75 Prozent aller Arbeitslosen sind weniger als ein Jahr lang ohne Arbeit", sagt Alexander Welscher. Die Postimees, eine der wichtigsten Tageszeitungen in Estland, veröffentlicht jedes Wochenende auf der Titelseite die Zahlen: Oben rechts die aktuelle Arbeitslosenquote in Schwarz und unten in Blau, um wie viele Personen diese Zahl in der vergangenen Woche geschrumpft ist. Am 22. August waren 73.873 Menschen arbeitslos, 838 hatten einen neuen Job gefunden.

Doch nicht alle haben die Kraft und die Chance, sich neu zu orientieren. Anna Raud, 52 Jahre alt und von starker Neurodermitis geplagt, kann nicht mehr so richtig an einen Neuanfang glauben. Schüchtern blickt sie sich im Café in der Tallinner Innenstadt um, schon lange ist dieses Pflaster hier für sie viel zu teuer. Früher arbeitete Anna bei einer deutschen Firma. Anfang August 2008 kam sie von einer Geschäftsreise zurück und fand die Kündigung auf ihrem Schreibtisch - rückwirkend ab Juli. "Die angespannte Situation ist schon vorher zu spüren gewesen. Wir wussten, es würden Leute gehen müssen", erzählt Anna. Die Kündigung war für die alleinerziehende Mutter trotzdem ein Schock: "Sie hat mein ganzes Leben umgekrempelt."

Innerhalb eines Jahres stand Anna vor dem Nichts. Drei Monate lang bekam sie die Hälfte ihres Gehalts als Arbeitslosengeld gezahlt, weitere neun Monate 40 Prozent, dann war Schluss. Die Neurodermitis behindert nur indirekt ihre Jobsuche, das jüngste Kind ist schon 14. "Aus staatlicher Sicht gibt es also keinen Grund, mich zu unterstützen", so Anna. Deshalb leben sie und ihre beiden Söhne wieder mit Annas erwachsener Tochter Hedi und deren zweijährigem Sohn Albert zusammen. Hedis Mann hat Selbstmord begangen. Er arbeitete in der Baubranche, erwähnt Anna nebenbei. Der Branche also, die in der Krise völlig kollabiert ist. Anna betreut das Kind der jungen Witwe, dafür zahlt diese die gemeinsame Miete.

Mit ihren Problemen ist Anna unter Esten vielleicht eher eine Ausnahme, zumal im reichen Tallinn. Für die wichtigste Minderheit im Land, die 26 Prozent Russen, ist Arbeitslosigkeit dagegen die Regel. In Ostestland, nahe der russischen Grenze, meint man die Perspektivlosigkeit mit den Händen greifen zu können. Junge Männer mit kurz rasierten Haaren und Bierflaschen in der Hand lungern mittags auf dem Rathausplatz von Sillamäe herum. Hier sind 86 Prozent der Bevölkerung Russen. Kaum jemand spricht Estnisch, denn kein estnischer Lehrer oder Kindergärtner verirre sich freiwillig hierher, erklärt Museumsdirektor Aleksandr Popolitow. Aber ohne Estnisch sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht.

Das Land verlassen

Die Textilfabrik Krenholm, Hauptarbeitgeber in Narva, hat während der Krise 800 Arbeiter entlassen müssen. Andere Industriezweige wie Landwirtschaft oder Bergbau, die bisher Lebensgrundlage für viele unqualifizierte Arbeiter waren, sind ebenfalls stark betroffen. Wohin also mit den vielen Arbeitskräften? Viele geben auf. Sergej, der in Narva seit drei Stunden in der Autoschlange an der Grenze nach Russland wartet, hat seinen eigenen Weg raus aus der Krise gefunden. Noch vor zwei Jahren versuchten die Russen auf der anderen Seite alles, um Geld im reichen Estland zu verdienen. Um seine Familie ernähren zu können, pendelt Sergej dagegen seit Neuestem zum Arbeiten nach St. Petersburg.

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