Der Sinn, der flattert

THEATER Mit „KapiTal der Puppen“ inszeniert René Pollesch das erste Mal am Staatsschauspiel Dresden

Vor hundert Jahren wurde das Dresdner Schauspielhaus gebaut. Zum Jubiläum leistet sich das Dresden Staatsschauspiel seinen ersten Pollesch: „KapiTal der Puppen“. Und prompt betreiben die Schauspieler in diesem Stück historische Forschungen und decken auf, dass die Geschichte des Theaters viel enger mit der Geschichte des Films verbunden ist, als dies gemeinhin bekannt ist.

Seit hundert Jahren ungefähr, behaupten sie in der Eingangssequenz, sei es gängige Praxis, dass Filme in den Kulissen des Theaters inszeniert werden, oft von den Assistenten der Theaterregisseure und den Praktikanten. Die Schauspieler, für ihre Theaterarbeit bezahlt, würden bei den Filmprojekten umsonst mitmachen, weil sie sich dann selbst einreden könnten, dies geschehe aus Liebe zur Kunst und das brächte großen Ruhm. Der Theaterregisseur verschweige aus Scham, was hinter seinem Rücken passiert. Und deshalb ist dies eine geheime Geschichte.

Das Publikum sitzt im Kleinen Haus in der Dresdner Neustadt auf der Seitenbühne und schaut gewissermaßen durch die Kulissen zu. Das ist ein Sammelsurium verschiedener mobiler Räume, quietschbunt und ohne logische Ordnung. Fünf SchauspielerInnen, eine Souffleuse und ein Trupp von Kameramännern und Mikrogalgenträgern erzählen, kommentieren und spielen nun den Versuch eines Theaterregisseurs, das heimliche Drehen eines Films während seiner Theaterproben zu verhindern.

Sie übernehmen dabei nicht nur wechselweise die Rollen des Theaterregisseurs und des filmenden Regieassistenten, sondern jagen den Rollenwechsel in sprachartistische Übungen hoch, bis jedes Pronomen seinen Bezug verliert. Wie Bälle, die einander zugeworfen werden, schwirren „ich“, „du“, „er“, „sie“ oder „wir alle“ durch den Raum.

René Pollesch, der seine Stücke mit seinen Darstellern entwickelt, schreibt im „KapiTal der Puppen“ viele Themen fort.

Für die Darsteller in Dresden ist das Stück indes ihre Pollesch-Initiation. Es geht um die Macht des Regisseurs und die Chancen des Theaters, hierarchische Ordnungen zu unterlaufen. Es geht um das Werben um Liebe zwischen den Künstlern untereinander und zwischen ihnen und dem Publikum als einer schwer zu entkommenden Falle. Es geht um die Schwellen des Übergangs – ob es noch Rückzugsräume gibt, in denen ein Ich es selbst sein kann oder ob dieses Selbst nur aus dem Spiel entstehen kann. Und während der Pollesch-Diskurs zuletzt mit der Kreativität haderte, dem gesellschaftlichen Zwang, sich immer wieder neu zu erfinden, schaut er diesmal überraschend wohlwollend auf das, was das Spiel hervorbringt.

Ohne Spiel kein Ernst – zu dieser Erkenntnis steigern sich die argumentativen Ketten und hin- und herfliegenden Sätze, die sich die SchauspielerInnen manchmal in einer Gruppensitzung, oft aber auch in einer Polonaise durch die Kulissen und über Vorder- und Seitenbühne laufend zurufen.

Man sieht dann, wie der Theaterregisseur dem Filmregisseur nachjagt, dessen Kamera auf die laufenden Füße gerichtet ist. Es ist ein Wettrennen ohne Sieger, ein Karussell wechselnder Perspektiven und ein Austausch von Gedanken, bei dem keine Erkenntnis endgültig ist. Nichts steht still.

„KapiTal der Puppen“ ist nicht so prominent besetzt wie andere Inszenierungen von René Pollesch und nicht so routiniert virtuos. Die Beobachtungen aber, die in Dresden aus der Reflexion der Kunstformen abgeleitet werden, kommen zu verblüffenden Ergebnissen, nebenbei und lapidar.

„Das Leben hat nicht so viel mit uns zu tun, wie wir denken“, ist so ein Satz, der all die Diskussionen um Autonomie, Selbstbestimmung und Verantwortung auffliegen lässt wie einen Haufen panischer Hühner. Oder „Scheitern ist ein Ding der oberen Mittelschicht“: Vor diesem Satz zerbröselt die Nonchalance und Coolness eines kulturellen Selbstverständnisses, das abseits des Mainstreams und jenseits des kommerziell Erfolgreichen zu existieren schon für eine Tugend hält. Wieder ein saftiges Stückchen Selbstbetrug aufgespießt. KATRIN BETTINA MÜLLER