Debatte Arbeitswelt: Das Ende der Integration
Zwar geht es mit der Wirtschaft in Deutschland wieder aufwärts. Doch weil die Zahl prekärer Jobs steigt, nimmt die soziale Sicherheit weiter ab.
E s wirtschaftswundert wieder. Deutschland hat sich in der Krise wacker geschlagen und die Arbeitslosenquote ist auf den niedrigsten Wert seit 1993 gesunken. Doch hinter den schönen Zahlen verbirgt sich ein epochaler Wandel der Arbeitsgesellschaft. Denn die neu geschaffenen Jobs entpuppen sich zumeist als prekäre Arbeitsplätze: ob als Leiharbeiter, befristet Beschäftigter oder Werkvertragsnehmer.
In den 1980er Jahren erwarteten einige Sozialwissenschaftler das Ende der Arbeitsgesellschaft. Sie hätten sich nicht gründlicher täuschen können. Heute arbeiten wir nicht weniger, sondern mehr. Vor der Wirtschaftskrise 2008 waren mehr Menschen in Deutschland lohnabhängig beschäftigt als jemals zuvor. Auch das insgesamt geleistete Arbeitsvolumen erreichte einen neuen Höchststand.
Dramatisch verändert haben sich aber die Verhältnisse, in denen wir arbeiten und arbeiten werden: sie sind heute ungeschützter, unsicherer und schlechter bezahlt. Noch ist die unbefristete Stelle, die dem Kündigungsschutz unterliegt und ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit gewährt, die Regel. Doch diese Normalität schwindet. 2008 waren nur noch 66 Prozent der Erwerbstätigen so angestellt - vor zehn Jahren waren es noch fast 73 Prozent.
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Er hat seine Dissertation über "Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie" geschrieben und veröffentlicht ab und zu in taz, FAS oder Welt.
Leitbild des Bürgers im Betrieb
In der Nachkriegsära führten stetes Wirtschaftswachstum und ein sozialer Elitenkonsens zu einer Konstellation, die bis heute als Folie der guten Gesellschaft dient. Eine gemischte Wirtschaft, eine legitime hohe staatliche Aktivität und vor allem der Ausbau des Wohlfahrtsstaates trugen zu einem bislang nicht gekannten Grad an sozialer Sicherheit bei. Aus Proletariern wurden Bürger im Betrieb, die nicht nur über zivile und politische, sondern auch über wirtschaftliche Staatsbürgerrechte verfügten: das Recht auf sozialstaatliche Leistungen, erweiterte Konsummöglichkeiten und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Tarifverträge, Gesundheitsschutz, Arbeitsrecht, Kündigungsschutz und die - im Laufe der Zeit noch erweiterten - Mitbestimmungsrechte veränderten den Status von Beschäftigten in Unternehmen und Gesellschaft.
Prekäre Beschäftigung gab es auch zu dieser Zeit schon - meist aber jenseits der großen, tariflich abgesicherten Bereiche, also nur am Rand. Bis Anfang der 1990er Jahre gelang es den deutschen Gewerkschaften auch, immense Reallohnsteigerungen zu erreichen. Die inflationsbereinigten Einkommen von Arbeitern stiegen um das Dreieinhalbfache, das der Angestellten um mehr als das Vierfache.
Schrittweise hat sich das geändert. Der soziale Kapitalismus machte dem Finanzkapitalismus Platz. Dieser wurde sowohl durch die Deregulierung der Finanzmärkte, veränderte Unternehmensstrategien als auch den Rückbau und die Liberalisierung des Sozialstaates vorangetrieben. Die Politik der "Aktivierung" machte immer mehr Menschen so frei, wieder arbeiten zu müssen. Die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Liberalisierung der Befristungsregelungen sowie der Leiharbeit erlaubten es den Unternehmen, vermehrt auf prekäre Beschäftigung zurückzugreifen.
Nur noch befristete Verträge?
Das traf sich mit dem Wandel der deutschen Unternehmenskultur. Die Privatisierungen öffentlicher Unternehmen führten diese in einen verschärften Wettbewerb und zu einer oftmals radikalen Niedriglohnpolitik. Insbesondere die weltmarktorientierten Unternehmen verschrieben sich der Shareholder-Value-Maxime und setzten strategisch auf kurzfristige Gewinnmaximierung. Prekäre Beschäftigung, billig und praktisch jederzeit kündbar, ist aus Unternehmenssicht für solch eine Strategie ideal. Aus dem Randphänomen prekärer Beschäftigung wurde im Finanzmarktkapitalismus ein Massenphänomen.
Dass die Krise durch Kurzarbeit und flexible Beschäftigung erfolgreich bewältigt wurde, führt bei vielen Unternehmen dazu, noch kräftiger auf das Flexibilisierungsinstrument prekäre Beschäftigung zu setzen. Mittlerweile sind 47 Prozent (!) aller Neueinstellungen befristet, in Betrieben mit mehr als 250 Beschäftigten sogar 67 Prozent. Genauso in der Leiharbeit, die bereits jetzt den alten Höchststand von 2008 wieder überschritten hat.
Eine Betriebsrätebefragung der IG Metall brachte drastische Ergebnisse zu Tage: In 66 Prozent der Betriebe greift man auf Leiharbeit zurück, in 40 Prozent liegt sie auf dem Stand von 2008 oder bereits höher. Zusätzlicher Bedarf an Arbeitskräften wird nur zu 15 Prozent durch unbefristete Einstellungen abgedeckt - 85 Prozent setzen auf Leiharbeit und Befristungen. Zwischen einem Viertel und einem Fünftel der Unternehmen ersetzen Stammbeschäftigte durch Leiharbeiter. Effektiv wird damit der Kündigungsschutz außer Kraft gesetzt, da er für prekär Beschäftigte kaum greift.
Ohnmächtige Gewerkschaften
Die Gewerkschaften haben dieser Entwicklung wenig entgegenzusetzen, das System der Tarifverträge erodiert. Jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeitete 2008 für einen Stundenlohn unter der Niedriglohngrenze, von den atypisch Beschäftigten sogar jeder zweite. Seit 1998 ist die Zahl der Niedriglohnempfänger um 2,3 Millionen gestiegen. Die gestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen bedeutet zwar einen Emanzipationsgewinn. Sie entspringt aber in vielen Fällen dem Zwang, in Niedriglohnjobs Geld zu verdienen, weil das Haushaltseinkommen sonst nicht mehr ausreicht.
Deutschland fragt, ob es sich abschafft. Doch die aktuelle Debatte um Migration, Demografie und kulturelle Integration verdeckt, was tatsächlich verloren zu gehen droht: das Normalarbeitsverhältnis als Modell sozialer Integration. Noch ist prekäre Beschäftigung nicht der Normalfall. Aber sie bedroht den Gesellschaftsvertrag der frühen Bundesrepublik, weil sie die Erwerbsarbeit von sozialer Sicherheit und Integration löst. Die wirtschaftlichen Bürgerrechte haben an Geltung verloren. Die Mittelschicht plagen Abstiegssorgen, im sozialen Unten fühlt man sich abgehängt. Die hitzige Debatte um die Integration von Migranten spiegelt, wie groß die Sorge um die eigene soziale Integration bei vielen Bürgern ist. Das neue deutsche Wirtschaftswunder wird diese Sorgen nicht lindern, im Gegenteil.
OLIVER NACHTWEY
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“