Montagsinterview Berlins Tierschutzbeauftragter: "Ich brauche Tiere, mit denen ich reden kann"

Klaus Lüdcke kümmert sich die Tiere der Großstadt. Bereits als Kind versorgte er im Garten einen kleinen Zoo. Schon damals legte er Wert auf artgerechte Haltung.

Klaus Lüdcke am Bärengehege in Berlin-Mitte Bild: Anja Weber

taz: Herr Lüdcke, in der Stadt gibt es immer wieder Konflikte um Tiere: Menschen, die Tauben füttern; Hundebesitzer, die ihren Tieren so viel Auslauf wie möglich gönnen wollen. Sind die Berliner zu tierlieb?

Klaus Lüdcke: Nein, zu tierlieb, das gibt es überhaupt nicht. Doch der Berliner ist schon tierlieber als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung.

Am 20. November 1938 kommt Klaus Lüdcke in Berlin-Mitte auf die Welt. Schon als Kind hält er verschiedenste Tiere, kümmert sich um Unterbringung, Futter und kleinere Verletzungen. An der Freien Universität studiert er Veterinärmedizin und promoviert.

Lüdcke praktiziert nur kurz als Tierarzt - in einer Rinderklinik. Dann gerät er "auf die schiefe Bahn", wie er sagt, und meint damit die Wissenschaft. Er war an der wissenschaftlichen Auswertung der Taubenpille beteiligt, die die Zahl der Vögel in Städten auf verträgliche Weise reduzieren sollte. 29 Jahre lang arbeitete er im Umweltbundesamt und leitete dort die "größte Umweltbibliothek Europas". Welche Handgriffe zum Beispiel für die Kastration einer Katze nötig wären, weiß Lüdcke zwar immer noch. Mit seinen Tieren geht er aber lieber selbst zum Tierarzt.

Seit 2007 ist Lüdcke Tierschutzbeauftragter von Berlin. Ursprünglich sollte nach zwei Jahren Schluss sein. Noch eine Amtszeit dranhängen will Lüdcke jedoch nicht. "Jetzt sind Jüngere gefragt", sagt er. Auch wenn er mittlerweile für bayerische Zirkusse oder emsländische Ponys angefragt wird - einen Posten als Bundestierschutzbeauftragter, wie ihn die Grünen fordern, kann er sich nicht vorstellen. Tierschutz müsse vor Ort passieren.

Lüdcke sitzt auch in der Jury des Berliner Tierschutzpreises. Am 30. Oktober, dem Berliner Tierschutztag, soll der Preis zum dritten Mal verliehen werden.

Angesichts der Tauben- und Hundeproblematik wäre manchen vielleicht etwas weniger Tierliebe lieber.

Da ist es wie überall in der Gesellschaft: Die Grenzen des Einzelnen sind da, wo die Grenzen des anderen beginnen. Und das sehen sehr tierliebe Menschen oft nicht ein. Sie sind der Meinung, dass für ihren Hund der ganze Park da ist und alle Wälder, Seen und Badestellen auch. Das stimmt aber nicht. Hier muss Rücksicht auf Mütter mit Kinderwagen, Jogger, Wanderer und Badende genommen werden.

Also wäre weniger Tierliebe manchmal besser.

Das hat nichts mehr mit Tierliebe zu tun. Das ist pure Unvernunft. Ich kriege Magenschmerzen, wenn ich in einem Park jemanden sehe, der seinen Hund eine Bank ausbuddeln lässt. So weit, dass die Bank umkippt.

Das braucht ein Hund nicht?

Nein. Vor allem nicht da, wo sich andere Menschen die Beine brechen können. Aber solche Situationen erlebe ich ganz häufig - das hat mich auch mit dazu bewogen, Tierschutzbeauftragter zu werden.

Sie sind approbierter Tierarzt. Welche Tiere haben Sie selbst?

Wenn ich bis 2012 durchhalte, habe ich - mit Unterbrechungen - 60 Jahre einen Hund. Als Schüler hatte ich einen richtigen Zoo: Ich habe Hühner und Tauben gezüchtet, hatte eine zahme Krähe, ein Frettchen, Meerschweinchen, Goldhamster, weiße Mäuse und Unmengen von Vögeln.

Ihre Eltern hatten nichts dagegen?

Für meine Eltern war das in Ordnung. Ich hätte auch einen Elefanten halten können - ich musste nur fürs Futter sorgen. Das war nach dem Krieg nicht so einfach. Ich habe daher immer in den Ferien gearbeitet und Mähbinder - eine frühe Art Mähdrescher - saubergemacht. Das Korn, das hängenblieb, war meins, da kamen ein paar Säcke zusammen. Mais habe ich auch angebaut und Topinambur für die Kaninchen. Für die Vögel habe ich Samen gesammelt. Als Schüler habe ich mit den Tieren auch etwas Geld verdient. Nach dem Krieg gab es sonst keine Meerschweinchen oder Goldhamster, und ich habe welche gegen etwas Geld abgegeben.

Und Sie haben sämtliche Tiere immer artgerecht gehalten?

Na klar. Wir haben damals im Süden Berlins, in der Mark Brandenburg gewohnt. Das war ein großes Grundstück, auf dem ich unter anderem Volieren hatte und Ställe. Ich selbst habe allerdings zwei linke Hände, daher musste mein Vater immer alles bauen. Ich habe vorher in Bücher geschaut, wie so ein Kaninchenstall aussehen muss. Aber mein Vater hat immer alles doppelt so groß gebaut, weil er den Tieren mehr Platz geben wollte. Das hat mich geprägt. Kleine Käfige kann ich gar nicht leiden.

Kranke Tiere haben Sie schon damals selbst behandelt?

Meine Mutter hatte ein gutes Händchen für verletzte oder kranke Tiere. Wir haben viele kranke Tiere gepflegt, die uns ins Haus gebracht wurden, und haben aus dem Nest gefallene Vögel aufgepäppelt. Die Nachbarschaft wusste schon, wohin mit solchen Tieren. Aber es gab auch Fälle, in denen ich zum Tierarzt musste.

Und wenn der auch nicht mehr helfen konnte?

Wenn ein Tier gestorben ist, dann war das schon immer für die ganze Familie traurig. Und neben der Trauer waren da natürlich auch Schuldgefühle: Hätte man nicht doch noch etwas machen können? Hätte ich mich früher kümmern müssen? Auf der anderen Seite haben wir auch Kaninchen geschlachtet und Tauben. Das war damals auch nötig. In den Laden gehen und Fleisch kaufen konnte man nicht, nach dem Krieg und bis weit in die 50er Jahre musste man sich schon selbst versorgen.

Sie haben selbst geschlachtet?

Nein, das hat keiner bei uns fertigbekommen. Dafür sind wir zu jemand anderem gegangen.

Was fasziniert Sie denn so an Tieren?

Jedes Tier ist ein sozialer Kontakt. Das muss nicht mal ein Hund sein, das fängt schon bei Vögeln an. Wenn ich nach Hause komme und "huiit" mache, und dann kommt ein "huiit" zurück, dann ist das ein Kontakt, der mir gut tut. Und vielen Menschen in unserer Stadt wünsche ich das auch. Deshalb hilft es zum Beispiel viel, Hunde in Krankenhäusern oder Altersheimen einzusetzen. Wenn Altenheime Tierhaltung haben, das gibt den Menschen unheimlich viel, weil sie sich dann kümmern können. Das ist übrigens bei kranken Kindern genauso. Meinem Bruder haben wir früher, immer wenn er krank war, ein Meerschweinchen ins Bett gesetzt. Dann ging es ihm besser.

Klappt das mit jedem Tier?

Das ist unterschiedlich. Der eine begeistert sich eben für Geckos, der Nächste für Fische. Zu denen habe ich beispielsweise gar kein Verhältnis. Ich brauche Tiere, die ich anfassen kann, mit denen ich auch mal reden kann.

Im vergangenen Jahr haben Sie als Tierschutzbeauftragter mehr als 1.000 Beschwerden und Hinweise bearbeitet. Worüber beklagen sich die Leute denn so?

Das geht querbeet. Von Zoo und Tierpark über Wildtiere bis hin zu Heimtierhaltung. In meiner Anfangszeit haben mich häufig Leute angerufen, die abends nach Hause kamen und ein Fuchs stand in der Einfahrt. Die haben sich nicht mehr aus dem Auto getraut, und ich sollte nun den Fuchs wegscheuchen. Bei Heimtieren geht es dagegen meist um falsche Tierhaltung. Da informieren wir die Veterinärämter: Die greifen gegebenenfalls ein.

Gibt es auch unberechtigte Beschwerden?

Na klar. Es gab einen besonders verrückten Fall, in dem sich Leute beschwert haben, dass ein Hund draußen auf einem Grundstück liegt. Ich habe also sofort das Veterinäramt angerufen. Das ging vorbei und stellte fest: Der Hund hat hinter dem Haus einen riesengroßen Zwinger und eine Hütte. Aber er liegt gern vor dem Haus im Kühlen. Doch die Beschwerdeführer haben dem Veterinäramt nicht geglaubt - und den Hund gestohlen. Später ist der Hund in Niedersachsen wieder aufgetaucht. So weit geht das.

Und jetzt?

Ist er wieder bei seinen Besitzern.

Aber wenn die Haltung nicht stimmt, kommen die Tiere ins Tierheim.

Erst in die Tiersammelstelle, dann ins Tierheim, ja. Und die Idee ist eigentlich, dass jemand anders dann die Tiere vermittelt bekommt.

Bei Ziegen oder Kaimanen klappt das eher nicht.

Ja, manchmal habe ich da auch ein schlechtes Gewissen. Die Ziegen habe ich dem Tierheim verschafft. Und da sind sie immer noch. Genau wie die Affen. Für sie wurde im Tierheim provisorisch ein halbes Hundehaus geräumt und später ein Affenhaus gebaut. Das kostet viel Geld, etwa eine Million Euro. Die Affen kriegen sie nicht wieder weg.

Eine Million?

Ja, da gehören zum Beispiel die ganzen Versorgungseinrichtungen zu, alles, was hinter den Kulissen passiert. Wer wie in diesem Fall mehr als 20 Affen aufnimmt, braucht genauso eine Futterküche, Wärme und Behandlungsmöglichkeiten wie ein Zoo. Da gibt es bestimmte Standards, die man nicht unterschreiten darf.

Wie oft sind Sie im Tierheim?

So selten wie möglich. Das ist für mich ganz, ganz schwierig. Auch wenn ich zu großen Veranstaltungen oder Besprechungen da bin, gehe ich schnurstracks in den Sitzungssaal. Es ist für mich wahnsinnig belastend, die Hunde zu sehen. Deshalb habe ich auch keinen Tierheimhund. Weil ich meinen dann dauernd anschauen würde und denken: "Warum habe ich den genommen und nicht den anderen? Oder zwei kleinere. Oder drei ganz kleine." Als Student habe ich neben dem Tierheim in Lankwitz gewohnt. Abends, wenn ich dann noch eine Runde ging, waren da Hunde am Zaun angebunden. Das hat mich wahnsinnig beschäftigt. Im letzten Herbst hatte ich Besuch von einer Verwandten aus Afrika. Die wollte unbedingt das Katzenhaus sehen. Ich habe Wochen gebraucht, um das wieder aus dem Kopf zu kriegen. Am liebsten würde ich alle mitnehmen.

Trotzdem werden es immer mehr Tiere.

Das hat nicht immer etwas mit falscher Haltung zu tun. Am schlimmsten finde ich es, wenn Menschen ihre Tiere aus wirtschaftlichen Gründen abgeben müssen. Weil sie das Futter nicht mehr bezahlen können. Daher bin ich froh, dass es mittlerweile eine Tiertafel gibt. Und es gibt immer wieder Tierarztkollegen, die solchen Menschen helfen.

Sie sind seit drei Jahren Tierschutzbeauftragter. Bei Ihrer Tätigkeit stehen Sie unter genauer Beobachtung von zwei Seiten: dem Senat und den Tierschützern. Mit wem geraten Sie öfter aneinander?

Mit dem Senat bislang nicht. Die sind froh, dass sie mich gefunden haben. Bei den Tierschützern gibts auch keine Probleme, ich bin ja einer von ihnen. Trotzdem habe ich zum Beispiel Ärger mit Tierhaltern, die wollen, dass ich mich dafür einsetze, dass die BSR das Hundeauslaufgebiet und die Straßen säubert. Die sagen, sie zahlen Hundesteuer, da kann mein Hund seinen Haufen hinmachen, wo er will.

Was sagen Sie denen?

Ich sage: "Hallo, Sie haben die Tüte vergessen, hier haben Sie eine." Aber die Antwort, das ist meist pure Fäkalsprache, das kann ich nicht wiederholen. Und das ist nicht nur in Kreuzberg so, sondern auch in Nikolassee oder Frohnau. Das ist falsch verstandene Tierliebe. In Telefonaten oder E-Mails werde ich schon mal als Senatsknecht beschimpft. Oder als rot-rote Sau. Dabei ist das Quatsch. Ich arbeite komplett unabhängig - und das ist mir wichtig.

Sie bekommen Schmähbriefe?

Ja, das auch. Böse Anrufe, alles.

Fallen auch die Stadtbären unter falsch verstandene Tierliebe? Sie setzen sich dafür ein, dass die beiden in einen Bärenpark umziehen.

Das ist auch so ein schwieriger Fall. Ich kriege sogar in meiner Familie Ärger, weil ich die Bären aus der Stadt nehmen will. Aber wenn die Tiere in zwei, drei Jahren, wenn es neue Regelungen gibt, artgerecht gehalten werden sollen, dann brauchen sie mehr Platz.

Wie schlimm sind denn die Haltungsbedingungen dort derzeit?

Vor zwei Jahren hatten wir in Bayern den Bären Bruno. Der ist nachts gute 30 Kilometer gewandert. Der Bär läuft also gern. Das können die Stadtbären gerade nicht. Der Bär ist eigentlich auch menschenscheu. Und in dem derzeitigen Gehege ist kein Ausweichen möglich. Auch die Möglichkeit, sich Höhlen für den Winterschlaf zu graben, gibt es nicht. Aber, und das muss man dazu sagen: Die beiden Pflegerinnen bemühen sich mit allen Mitteln, das Beste aus der Sache zu machen. Zum Beispiel verstecken sie das Futter, sie schaffen Bade- und Klettermöglichkeiten.

Als Tierschutzbeauftragter arbeiten Sie ehrenamtlich. Wie viel Zeit verbringen Sie mit dieser Aufgabe?

Wenn ich nicht gerade aus Berlin wegfahre, bin ich rund um die Uhr erreichbar. Es gibt Menschen, die wissen, dass ich um dreiviertel sieben mit dem Hund aus dem Haus gehe - und rufen eine Minute vorher an. Und es gibt welche, die rufen nachts um elf noch an. Es ist schon ein Fulltime-Job.

In welchen Fällen finden Sie es in Ordnung, nachts angerufen zu werden?

Wenn Leute in Not sind. Wenn sie ein krankes Tier haben und wissen nicht, wohin sie damit um diese Zeit noch gehen können oder einen Rat brauchen. Und wenn ich da helfen kann, dann bin ich nicht mehr müde. Aber Anrufe, weil tagsüber die Tauben zu laut gurren oder weil ein Marder unterm Auto sitzt - darauf kann ich gern verzichten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.