Zweischneidiges Schwert

POP-WEIRDO Der Baltimorer Komponist und Elektronik-Musiker Dan Deacon hat ein Album über sein zweispältiges Verhältnis zu den USA gemacht. Morgen präsentiert der für seine mitreißenden Liveperformances berüchtigte Pop-Weirdo „America“ im Molotow

Vor fünf Jahren kamen auf einer Europa-Tour Realitätsschock und Einsicht

VON ROBERT MATTHIES

Ein bisschen zerknirscht klingt Dan Deacon heute, wenn über die Zeit nach seinem Kompositionsstudium am Musikkonservatorium der New Yorker Uni in Purchase spricht. Wie ein ignoranter Idiot habe er gelebt: Hoffnungslos mit dem Studiendarlehen überschuldet, überzeugt, dass um ihn herum nur ignorante Idioten leben und das ganze Land von fiesen Unternehmen unwiderruflich zerstört wird, lebte Deacon in Baltimore in einem Lagerhaus, suchte in DIY-Kultur Schutz vor der verhassten Konsumkultur ringsum, holte sein Gemüse aus dem Container und feierte Parties, als gebe es kein Morgen: Geht doch sowieso alles vor die Hunde!

Vor fünf Jahren aber kam auf einer Europa-Tour der Realitätsschock und die alles verändernde Einsicht. Ganz egal mit welcher Subkultur er sich identifiziere, eines könne er nun mal nie ändern: dass er Amerikaner ist – und kein bisschen besser als die anderen, wenn er sich aus seiner Verantwortung stiehlt; dass die anderen gar nicht so blind sind, wie er dachte, und er selbst seine blinden Flecken hat; und dass das Verhältnis zum eigenen Land immer ein zweischneidiges Schwert ist und es eben auch Schönes zu entdecken und bewahren gibt, wenn man es von Nord nach Süd und durch alle Jahreszeiten bereist.

Den ebenso schlichten wie ambitionierten Titel „America“ trägt deshalb nun Deacons zwölftes Album, das in den USA durchweg positiv aufgenommen worden ist. Dort ist Deacon nämlich längst als furchtloser Pop-Weirdo mit außergewöhnlich mitreißenden Liveperformances inmitten des Publikums ebenso wie als ernstzunehmender Komponist zeitgenössischer Klassik und Filmmusik – unter anderem für Francis Ford Coppolas Horror-Thriller „Twixt“ – zu stattlichem Ruhm gekommen. Und als Polit-Akitivist: Am 1. Mai spielte er letztes Jahr mit Rage against the Machine-Gitarrist Tom Morello, dem Rapper Immortal Technique und den Hip-Hop-Neuerfindern Das Racist ein viel beachtetes Konzert im Rahmen der Occupy-Bewegung.

Ein zweischneidiges Schwert ist „America“ nun auch musikalisch: Auf der einen Seite findet sich da jene exzentrische Elektronik, die Deacon auf seinen sieben Alben zuvor in allen erdenklichen Schattierungen zelebriert hat. Auf der anderen Seite hat Deacons vor zwei Jahren wieder intensiviertes Interesse am Orchestralen deutlich Einzug gehalten. Und überhaupt will Deacon sein Album als Überlagerung von Dichotomien verstanden wissen: Von Hellem und Düsteren, von Akustischem und Synthetischem, von Besinnlichkeit und ausgelassener Feier.

Antworten will Deacon damit keine geben, sondern eine Reihe von Fragen über das Verhältnis zum eigenen Land und sich selbst darin aufwerfen. Eine grundlegende Antwort aber gibt Deacon morgen im Molotow, wenn er „America“ an seinem kleinen Tisch voller Equipment inmitten des Publikums vorstellt: Erst wenn alle auf ihre Weise mitmachen, wird Kunst politisch.

■ Fr, 22. 2., 23.30 Uhr, Molotow, Spielbudenplatz 5