Kolumne Das Schlagloch: Baut die Hürden ab!

Der Zugang zum Deutschlernen wird im Alltag unnötig erschwert. Anja, eine Spätaussiedlerin aus Russland, kann davon ein Lied singen.

Wer kein Deutsch kann oder einen deutlichen Akzent hat, ist "draußen". Und bleibt "draußen". : dpa

Warum lernen die Ausländer nicht endlich Deutsch?" In der "Integrationsdebatte" wird diese Frage bis zum Überdruss wiederholt. Hier ist eine mögliche Antwort, nämlich die nur geringfügig veränderte Geschichte von Anja, einer Bekannten aus dem Nachbarort. Anja ist Spätaussiedlerin. Als sie vor neun Jahren mit ihrem Mann aus Russland kam, sprach sie noch kein Deutsch. Sie ist Sozialarbeiterin. Ihr Diplom würde auch in Deutschland anerkannt, mit den entsprechenden Deutschkenntnissen könnte sie hier arbeiten, hieß es.

Also meldete sie sich zu einem Integrationskurs an. Derweil lebte die Familie von Hartz IV. Des Geldes wegen und auch, weil sie meinte, im täglichen Kontakt mit anderen schneller Deutsch lernen zu können, brach sie den Kurs ab und arbeitete in einer Keksfabrik. Gespräche unter den Arbeiterinnen waren dort nicht gern gesehen.

Deutschstunden verfallen

Anja wurde schwanger, bekam zwei Kinder im Abstand von vier Jahren. Als der jüngere Sohn vier wurde, wollte sich Anja wieder bei der VHS anmelden, fand aber keine geeignete Kinderbetreuung. Der Integrationskurs geht bis 13 Uhr 30, der hiesige Kindergarten aber nur bis 12. Nach einigem Hin-und-her-Telefonieren fanden wir heraus, dass sie einen Antrag auf verlängerte Betreuung stellen kann - bis 13 Uhr. Für die Stunde muss sie selbst zahlen. Ohnehin geht auch diese Betreuung nur bis 13 Uhr und der Deutschkurs bis 13.30. Ich rief bei diversen Kindergärten in der Kreisstadt an, wo die Betreuungszeiten besser waren, doch sie hatten keine Plätze mehr. Ich erkundigte mich, ob Anja wenigstens ein Anrecht auf die Deutschstunden habe, die ihr durch diese zeitliche Lücke entfallen würden - wenn sie also Schwierigkeiten hätte mitzukommen. Nein, lautete die Auskunft, die Stunden verfallen.

Eines Tages stand Anja tränenüberströmt vor meiner Tür. Vor einigen Monaten war im Kindergarten eine Armbanduhr abhandengekommen. Nun hatte ihr Sohn die Uhr seiner Mutter mit in den Kindergarten genommen; sie sah wertvoll aus. Die Kindergartenleiterin vermutete einen Zusammenhang und rief die Polizei. Die Polizei sprach mit dem Fünfjährigen, ohne dass die Mutter dabei war. Das Kind wurde regelrecht verhört. Die Sache hat sich dann schnell wieder erledigt. Was blieb, war Anjas Ärger darüber, wie die Kindergartenleiterin mit der Sache umgegangen war. "Mit einer deutschen Mutter hätten sie es nie gemacht!", sagt sie. "Sie haben nicht mal mit mir, der Mutter, gesprochen! Wie soll ich dieser Frau weiter vertrauen?"

Erst ein halbes Jahr zuvor hatte der Kindergarten einen Ausflug in den Wald gemacht. Dabei gingen Anjas Sohn und sein Cousin "verloren". Die Kindergartengruppe kehrte ohne die beiden zurück und bemerkte es erst im Nachhinein. Zum Glück trafen die Kinder im Wald auf eine Spaziergängerin, die sie nach Hause brachte. Bis heute hat sich die Kindergartenleiterin dafür nicht entschuldigt.

Sorgen besprechen

Die Kindergartenleiterin redete nicht mal mit ihr, aber das ist eigentlich das Hauptmerkmal von Anjas Lebenssituation: Niemand redet mit ihr. Wenn sie Deutsch spricht, spricht sie langsam und leise; es ist ihr peinlich, Fehler zu machen.

Sie traut sich kaum, mit Deutschen zu sprechen, und die sprechen von sich aus auch nicht mit ihr. Einmal fragte sie mich, wie man korrekt sagt: "Mein Sohn würde Ihren Sohn gern einladen, am Nachmittag zu uns zu kommen." Sie schrieb es sich auf. "Auf Russisch redet Anja ununterbrochen", sagt ihr Mann. Und Anja: "Es ist schwer für mich, weil ich eigentlich gern rede, aber auf Deutsch kann ich es nicht." Also ist sie vor allem mit russischen Frauen befreundet. Einer hat sie eine Wohnung im selben Haus verschafft. Eine zweite wird mit ihrer Familie ebenfalls in das Haus ziehen. Die drei sehen sich täglich. "Ohne sie könnte ich nicht leben", sagte Anja. "Ich muss meine Sorgen mit jemandem besprechen." Wer kommt da schon wieder mit dem Stichwort "Parallelgesellschaft"?

Schwere Entscheidungen

Anfang dieses Jahres hat Anja dann ihren Einstufungstest bei der VHS gemacht, der Kurs sollte ab April losgehen. Vorher riefen wir mehrmals an, um sicherzustellen, dass es der Fortgeschrittenenkurs war. Anja kam dort an, und es war der Anfängerkurs. Sie solle wieder heimgehen und warten, bis der Kurs ihr Niveau erreicht habe. Wann das sei, wollten wir wissen. Das könne man vorab nicht sagen, hieß es. Sie wartete zwei Monate, fragte wieder nach. Keine Antwort. Am 10. August endlich ging Anja ein Brief von der VHS zu: Ihr Kurs fange an. Habe angefangen. Am 9. August. Seither habe ich Anja zweimal getroffen. Der Kurs scheint gut für sie zu sein. Was Grammatik und Wortschatz angeht, sagt die Lehrerin, ist sie die Beste im Kurs. Ich wünsche ihr, dass sie bald so gut Deutsch spricht, dass sie keiner mehr ignorieren kann; dass sie selbst bei Behörden anrufen und auf Nachbarn zugehen kann.

Denn ja, alle hier Lebenden sollten möglichst schnell Deutsch lernen - weil Sprache das vermutlich wichtigste Unterscheidungsmerkmal des ganz normalen Rassismus in Deutschland ist. Auch das Aussehen, der Klang des Namens und natürlich sozialer Status, Habitus und Kleidung sind solche Merkmale. Letztgültig entschieden wird über Zugehörigkeit aber anhand der Sprache. Dabei ist es völlig egal, ob jemand die eigene Muttersprache und eventuell noch drei Fremdsprachen flüssig beherrscht - nur kein Deutsch. Wenn er kein Deutsch kann oder einen deutlichen Akzent hat, ist er "draußen". Und bleibt "draußen".

Oft gilt es, harte Entscheidungen zu treffen - Geld verdienen oder Deutsch lernen, Kinder aufziehen oder Deutsch lernen. Weit davon entfernt, den "Ausländern" das Deutsch hinterherzutragen, das sie dann schnöde ablehnen, ist es so, dass unsere Gesellschaft das Deutsche oft hütet wie einen Schatz oder ein Privileg. Wer aufrichtig über Integration reden will, muss auch das bedenken. Muss nach den vielfältigen Hürden fragen, die den Zugang in unsere Gesellschaft erschweren und für deren Abbau die Politik Verantwortung trägt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.