Festival "Chor@Berlin": Lasst es tönen!

Lange galt Singen als piefig. Das ist vorbei - und davon profitieren rund 1.500 Chöre der Stadt. Einige von ihnen treten ab Donnerstag beim Festival "Chor@Berlin" auf.

Auch wenn das Lesen von Chorsätzen nicht jedermanns Sache ist - Singen ist wieder in. Bild: anke-art /photocase.de

Ein vielstimmiges "Solve" tönt durch den Raum im vierten Stock des Tanzzentrums Radialsystem. 25 junge Männer und Frauen schmettern das Wort aus weit geöffneten Mündern, unisono in fünf Tonlagen. Für Laien klingen die Takte aus Alessandro Scarlattis "Marienvesper" beeindruckend, aber der Chorleiter ist nicht zufrieden. "Lasst es mehr strömen", weist Frank Markowitsch die Chormitglieder an. "Und der Vokal stimmt noch nicht." Um die richtige Intonation des "O" zu erreichen, spricht ein extra für die italienische Latein-Aussprache engagierter Italiener ein "solve" in den Raum. Zweiter Versuch, der Organist stimmt ein F-Dur an. "Solve vincla reis" - "löse die Ketten der Schuldner" - schmettert der Chor. Jetzt strömt es, das abschließende "Amen" schwillt an, bis es mit dem Sonnenlicht von draußen um die Wette zu leuchten scheint. "Geil!", ruft der Chorleiter.

Bei den Proben seines Ensembles "Vokalakademie" lässt sich erahnen, wie viel Spaß Singen machen kann - wenn man es beherrscht. Am Donnerstagabend muss die "Marienvesper" sitzen. Die Darbietung im großen Saal des Radialsystems ist der Auftakt für ein neues Festival: "Chor@Berlin" will die Freude an der Chormusik allen vermitteln, Laien wie Profis. "Zusammen singen macht glücklich", sagt Frank Markowitsch, der auch in der Festivalleitung aktiv ist. "Fragen Sie meine Leute!"

Der Chor aus jungen Gesangsprofis, der seit 2006 besteht, ist eine eingeschworene Gemeinschaft und viel lockerer, als man von InterpretInnen geistlicher Musik des Barock erwarten würde. Zwischen den Einsätzen wird gelacht, die meisten tragen Jeans und Turnschuhe. In Lisa Weiß' Nasenflügel blitzt ein Ring, die 23-jährige Gesangsstudentin mit dem schwarzen Bubikopf ist seit drei Jahren dabei. Sie schwärmt vom Gemeinschaftsgefühl und der Freude, gemeinsam etwas Schönes zu erschaffen. "Wir treffen uns nur einmal im Jahr - aber das sind immer ganz intensive Tage", sagt Weiß.

Arbeitsort der Vokalakademie, die sich während der Innsbrucker Festwochen als Ausbildungsplattform für junge Sänger gegründet hat, ist seit diesem Jahr Berlin. Beim Festival "Chor@Berlin" hat man eine neue Heimat gefunden. In der Stadt, die als Hochburg der Chöre gilt, gibt es zudem viele Gleichgesinnte. "Uns sind etwa 1.500 aktive Chöre bekannt - aber wir gehen davon aus, dass es noch viel mehr gibt", sagt Thomas Bender vom Chorverband Berlin. Die Szene ist breit gefächert, gesungen wird in Schulen, Kirchengemeinden, Kulturvereinen und bei der Polizei. Das Repertoire der Laiensänger reicht von bulgarischen Volkliedern bis Gospel, von A-capella-Versionen bekannter Popsongs bis zum Oratorium.

Der Massengesang blickt auf eine lange Tradition zurück, seit 1901 organisiert man sich im Berliner Sängerbund, der nun Chorverband heißt. Die senatsgeförderte Institution unterstützt die Arbeit der Laienchöre durch Vermittlung von Proberäumen, Übernahme von Gema-Gebühren und Fortbildungsmöglichkeiten für Chorleiter und Sänger. Erklärtes Vereinsziel ist die Steigerung des fachlichen Niveaus. Um das ist es in Berlin nicht schlecht bestellt, wie die Sonntagskonzerte in der Berliner Philharmonie oder das vom Verband organisierte Festival "Berlin singt" zeigen.

Trotzdem macht sich Verbandschef Bender Sorgen um die Zukunft der Singbewegung: "In den Familien gehört das Singen schon seit Jahrzehnten nicht mehr zum Alltag. Und nur jede zweite Schule hat einen Schulchor." Es sei zwar allgemein anerkannt, dass Singen die Konzentrationsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern fördere. Aber die Praxis in Kitas, Schulen und Elternhäusern lasse noch sehr zu wünschen übrig, meint Bender.

Andere traditionelle Formen wie der Betriebschor stürben langsam aus - sie passten nicht mehr in die "corporate identity" moderner Firmen. "Dabei wäre das gemeinsame Singen eine super Methode zum Stressabbau", ist Bender überzeugt, der dem DDR-Volkskunstgesetz im Nachhinein viel abgewinnen kann. Das Gesetz hatte die Betriebe verpflichtet, Kulturtätigkeiten ihrer Mitarbeiter zu unterstützen. Dadurch entstanden Perlen wie der - inzwischen aufgelöste -Bäckerchor Nord, der sich vor dem Gang in die Backstube zur Probe traf.

Das neue Festival "Chor@Berlin" soll die Lücke schließen zwischen der schwindenden Breitenbasis des Chorwesens und einer neuen Lust am Singen, die offenbar viele Jüngere befällt. "Wir befinden uns mitten in einem Generationenwechsel", sagt Sophie Schricker von der Festivalleitung. "Im Chor Singen galt lange als spießig. Nun gibt es viele junge Chorleiter, die ein zeitgemässeres Bild schaffen." Leider sei die hervorragende Arbeit vieler Ensembles zu wenig sichtbar, interessierte Laien wüssten oft nicht, welche Möglichkeiten es gibt, gemeinsam zu singen.

Das viertägige Vokalfest soll einen Überblick über die Bandbreite der Chormusik geben - vom Kindergarten bis zum Profi-Ensemble. Aus der erstmaligen Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Chorverband, dem Chorverband Berlin und dem Radialsystem soll langfristig eine Anlaufstelle werden mit einem festen Ort. Geplant ist ein monatlicher jour fixe für die Chorszene. Für Neueinsteiger gibt es ein besonders niedrigschwelliges Angebot, den "Ich-kann-nicht-singen-Chor". Der UdK-Dozent Michael Betzner-Brandt will damit Leute ansprechen, die sich bisher nicht in einen Chor getraut haben. Die Hoffnung ist: wer sich einmal getraut hat, kommt wieder. Vielleicht zum offenen Singen, das jetzt einmal monatlich im Radialsystem stattfinden soll. Die Chancen stehen gut: "Zu diesem Chor bekommen wir wahnsinnig viele Nachfragen", sagt Festivalleiterin Schricker. "Es scheint sich herum zu sprechen, dass Singen glücklich macht und billiger ist, als ein Instrument zu spielen."

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