Ex-Junkie schreibt Gedichte: "Ich will nicht zurück in die Hölle"

Steffi Neils verkauft das Obdachlosenmagazin "Hinz & Kunzt" in Hamburg - und legt Gedichte hinein. Damit schreibt sie gegen die Gespenster der Vergangenheit an.

Seit 13 Jahren clean: Steffi Neils. Bild: Cornelius M. Braun

HAMBURG taz | Steffi Neils hat einen Schutzengel. "Ich muss einen haben, so oft bin ich dem Tod schon von der Schippe gesprungen", sagt die zierliche Dame in den späten 60ern, die in der Hamburger Innenstadt das Obdachlosenmagazin Hinz & Kunzt verkauft.

Neils war mehr als 30 Jahre drogenabhängig. Um ihre Sucht zu finanzieren, hat sie gedealt, als Stripperin, Animierdame, Prostituierte gearbeitet. 1979, während eines kalten Entzugs, sprang sie aus dem Fenster und saß anschließend querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Als sie überraschend wieder gehen konnte, spritzte sie sich Heroin in den Fuß und humpelte auf Stöcken zurück zum Straßenstrich auf der Reeperbahn. Neils Schutzengel war im Dauereinsatz.

Wenn man sie jetzt sieht mit ihrem roten Brillengestell und der orangefarbenen Cordmütze, glaubt man nicht, dass dies ihre eigene Geschichte ist. Neils zieht ein Bein hinterher und nestelt beim Sprechen mit den Fingern nervös am dicken Wintermantel. Aber sonst scheint der Raubbau wenig Spuren hinterlassen zu haben.

Doch der Eindruck täuscht. "Ich kratze nur an der Oberfläche", sagt Neils. Verletzende, blutige, entwürdigende Erlebnisse aus ihrer Zeit als Hure, Tramperin, Abhängige streift sie bloß. Details verschweigt sie. Es gäbe eine Menge "Schubladen", die sie nicht öffne. "Das würde ich nicht aushalten; deshalb schreibe ich auch kein Buch über mein Leben. Ich will nicht zurück in die Hölle."

Neils schreibt kein Buch, sie schreibt Gedichte, die sie in ihre Hinz und Kunzt-Hefte steckt. "Glasiger Blick / Die Luft bierschwer / Ich kotz mich leer / Ein Klapperschluck muss her", dichtet sie. Denn noch immer verfolgt sie das Gespenst der Sucht und böse Erinnerungen. "Ich schreibe, weil schreiben mich leer macht von dem, was mich krank macht", heißt es in einem anderen Gedicht.

Das kurze Stück ist eines von zehn Steffi-Neils-Gedichten, die auf der Hör-CD "Tag und Nacht" erschienen sind. Die Schauspielerin Mechthild Großmann, bekannt etwa als Staatsanwältin im Münsteraner "Tatort", hat sie gesprochen - wegen ihrer kratzigen Schmirgelstimme ist sie auf der CD sofort zu identifizieren.

Die verrauchte Tonlage passt zum Sound der Gedichte. "Flucht aus dem staubgrauen Mief / Vier Stufen tief ins Gammlerparadies / Hauptsache nicht so wie die / Das war meine Ideologie", beschreibt Neils den Eintritt in das vermeintliche Eldorado der Freien und Unabhängigen: die Reeperbahn.

1960 kam Steffi Neils als Teenager von Mannheim nach Hamburg. Sie war fasziniert von dem Mix aus Rock'n Roll, Drogen, Literatur, Studenten, Bohemiens und halbseidenen Figuren in dunklen Kellerbars. Eine Welt, die sie mit 50 Jahren Abstand als "schrecklich gnadenlos wunderbar" beschreibt.

Ursprünglich sahen Neils Fluchtpläne aus dem engen Zuhause ganz anders aus. 1953 war sie mit ihrer Familie aus der DDR in den Westen geflohen, später lernte sie Krankenschwester. Als Teenager war sie tief religiös, Mitglied der Heilsarmee und stark beeinflusst von Albert Schweitzer. Sie kam nach Hamburg, weil sie sich auf die Arbeit in einer afrikanischen Lepra-Station vorbereiten wollte.

Stattdessen stürzte sich das Mädchen mit den dünnen dunklen Haaren in ein selbstzerstörerisches Abenteuer. Sie spritzte, schluckte, rauchte alle Drogen, die sie kriegen konnte. Hauste in schäbigen Zimmern, die sie sich mit anderen Gestrandeten teilte, verbrachte die Nächte an Kneipentresen, pennte in der Gosse, machte Platte. Sie wurde von Freiern zusammengeschlagen, bis sie sich selbst nicht mehr wiedererkannte.

"Wenn du einmal in der Schleife bist, kommst du da nicht mehr raus", sagt Neils, die viele Freunde, Saufkumpel, Junkies sterben sah. Über Sucht und Entzug dichtet sie schaurig-schön: "Kann etwas noch gefrorener sein als Eis? / Ja, mein Herz, wenn du mich berührst."

Nach über drei Jahrzehnten als Junkie und Alkoholikerin hielt sie im Juni 1998 einen freiwilligen kalten Entzug durch. Nach einem Monat war sie drogenfrei - und dem Tod vorerst das letzte Mal entkommen. Die "Wiedergeburt" feiert Neils immer am 14. Juni anstelle ihres Geburtstags im November. "Dieses Jahr werde ich 13", sagt sie und lächelt wie ein Mädchen.

Seit 2002 steht Neils als Hinz & Kunzt-Verkäuferin an einem festen Platz am Großen Burstah in der Hamburger City, ihre Verse verschenkt sie an ihre Kunden. Im Hinz & Kunzt-Verlag entstand auch die Idee, einige der Gedichte auf einer Hör-CD herauszubringen. Ihren Anteil am Erlös spendet Neils an die Drogenarbeit.

Neils arbeitet gerne als Straßenverkäuferin, die Straße nennt sie "Tankstelle für meine Seele". Nach wie vor besteht sie auf ihrer Freiheit. In der bürgerlichen Welt, "wo alles seinen Platz hat", könne sie nicht leben, sagt sie.

Neils erlebt auch Rückschläge. Sie fällt in tiefe Stimmungslöcher, durchlebt depressive Phasen, schiebt Hassattacken gegen sich selbst. Dann verschließt sie die Tür ihres WG-Zimmers und will niemanden sehen. Doch bisher hat sie sich immer zurückgekämpft.

Neils hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es das Glück für sie geben könnte: "Ich möchte bei dir sein und Wärme tauschen / Ice Of Town an deinem Herzen lauschen / In deinen Armen träumen gehen / Mich lächeln sehen in deinen Augen / Unter deiner Haut verschwinden / Mich in deinem Herzen finden / Schaufeln wie ein Maulwurf haben / Mich noch tiefer in dich graben / Bis du mich endlich spürst."

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