Regierungsbildung in Belgien: Die Frittenrevolution
Die Flamen und Wallonen brauchen zur Regierungsbildung länger als im Irak. Vor allem junge Belgier gehen deswegen jetzt wieder auf die Straße.
BRÜSSEL taz | "Nicht in unserem jungen Namen" nannte sich die neue Protestkoalition, die in Brüssel, Antwerpen, Lüttich und anderen belgischen Städten am Donnerstagabend über 5.000 Menschen auf die Straße brachte. Flämische und wallonische Studenten marschierten in der nochbelgischen Hauptstadt bunt gemischt hinter dem flämischen Löwen und dem wallonischen Hahn her. Auf Transparenten stand: "Die Frittenrevolution".
Der Donnerstag war der Tag, an dem Belgien den bisher vom Irak gehaltenen Rekord von 249 Tagen zur Regierungsbildung brach. Eine breite panbelgische Protestbewegung gibt es bereits seit dem 23. Januar, als die "Demonstration der Schande" in Brüssel 50.000 Menschen auf die Beine brachte. Auch jetzt ist die Botschaft an die Politiker die, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen sollen, statt das Land zerbrechen zu lassen.
Auf einem Volksfest in der Stadt Gand, besucht von rund 10.000 Menschen, trat in der Nacht zu Freitag eine angebliche Delegation des Irak auf, die pünktlich nach dem 12. Glockenschlag um Mitternacht einen symbolischen Weltmeisterpokal überreichte. Die Polizei musste eingreifen, um die andrängenden Massen fernzuhalten.
"Besser so etwas, als wenn es den Menschen egal ist", kommentierte Laurette Onckelinx, die frankofone Gesundheitsministerin Belgiens. Sie hatte vor wenigen Tagen die Regierungsbildung erneut in weite Ferne rücken lassen, als sie den flämischen Nationalismus als "Krebsgeschwür" bezeichnete.
Der flämische Nationalistenführer Bart De Wever sagte dazu im Fernsehen: "Wenn wir seit 249 Tagen nicht vorankommen, liegt es daran, dass wir uns in zwei unterschiedlichen Ländern befinden. Wir denken über alles unterschiedlich. In Flandern haben wir eine rechte Mehrheit, bei den Frankofonen eine linke."
Derzeit werden die belgischen Regierungsgeschäfte vom Finanzminister Didier Reynders geführt, ein frankofoner Liberaler. Er ist auch vom König zum "Informator" bestellt worden, der sozusagen Vorgespräche zur Auslotung möglicher Sondierungen über eine neue Regierungskoalition führen soll. Er hat dafür bis zum 1. März Zeit, aber niemand glaubt, dass er es schafft.
De Wevers rechtsnationalistische flämische Nieuwe Vlaamse Alliantie will keine Sozialisten und Grünen in der Regierung haben, auch keine flämischen. Der als möglicher Premierminister vorgesehen frankofone Sozialist Elio Di Rupo will seinerseits keine Regierung ohne flämische Sozialisten bilden. So treten die Gespräche auf der Stelle, niemand rechnet mit einem baldigen Ergebnis, dafür rechnen immer mehr Menschen mit Neuwahlen. Aber De Wever sagt, das würde nichts ändern, und das finden die meisten Belgier auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen