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take a nordic walk on the wild side von WIGLAF DROSTE

Arglos schlenderte ich die Straße entlang, als sie mir entgegen kamen: Drei mittels Sportkleidung brutal aufgerüstete hinfällige Damen, Skistöcke in den Fäusten, stapften übers Kreuzberger Trottoir und ruckten mit den Armen. Skier hatten sie keine unten dran, es lag ja auch kein Schnee. Spukhaft zischten sie an mir vorbei, einen olfaktorischen Schweif aus Nivea, Omischweiß und Franzbranntwein hinter sich her ziehend.

Ein halbes Leben in Berlin hat mich exzellent darauf vorbereitet, jede Form von Verrücktheit für selbstverständlich zu halten. So genanntes abweichendes Verhalten ist nichts Besonderes. Menschen, die sich stundenlang mit Litfaßsäulen streiten, mögen anderswo ein irritierender oder betrüblicher Anblick sein, eine auffällige Seltenheit sind sie hier nicht. Anders als unter Verrückten ist Leben ohnehin nicht möglich; das Grauen ist immer da, wo es als Normalität ausgeschenkt wird.

Es war also kein Abwehrreflex gegen das Unbekannte, der mich angesichts der bestockten Damen Grusel empfinden ließ. Wie sie so durch die abgasgesättigte Straßenschlucht tackerten, verströmten sie eine Mischung aus frisch, fromm, fröhlich, frei, fit for fun und Kraft durch Freude. Eine unerbittliche Durchgerungenheit ging von ihnen aus. Aber wozu hatten sie sich entschlossen? Vom Grundrecht auf Blamage hatten sie mit Sicherheit noch niemals gehört, machten aber umstandslos von ihm Gebrauch. Sie waren nicht verrückt, sie waren grotesk normal.

Wald und Flur verstopfen die Stöckeschwinger ohnehin seit Jahren, und immer sind sie, wie ihre nächsten und einzigen Verwandten, die Christen, im Pulk unterwegs. Busladungsgroße Rudel torkeln durch die Restnatur, und das ganze Jahr haben die Nordic Walker Schonzeit. Auch auf den deutschen Jäger ist kein Verlass mehr.

Der einfache Spaziergänger dagegen, der beschaulich schlendern will, stirbt aus. Er bringt nichts ein, weder der Freizeittextil- noch der Skistockindustrie, die, einst von der Erfindung des Snowboards in die Krise gestoßen, nun am Nordic Walker gesundet.

Alle Versuche, die Rechte an Lou Reeds „Take a walk on the wild side“ für Werbezwecke zu erwerben, schlugen bisher fehl. Marius Müller-Westernhagen dagegen hat seinen „Johnny Walker“-Hit bereitwillig umgeschrieben und singt nun auf Motivationsveranstaltungen: „Nordic Walker, du bist mein bester Freund …“

Seinem mit ihm alt gewordenen, im Kopf stark kalkhaltigen Publikum gefällt das sehr, und manchmal fährt dieser Prägeriatrie noch der good old Spießer-Rock-’n’-Roll ins morsche Knochengerüst: „I like the way you nordic walk, I like the way you brabbeltalk …“ Römische Feldherren, die sich unrühmlich betrugen, stürzten sich in ihr Schwert und geben damit den Nordic Walkern ein tadelloses Vorbild.

Mancher von ihnen ahnt indes, wie es um ihn steht. In der Chemnitzer Fußgängerzone begegneten mir zwei Nordic Walker. Sie ließen ihre Stöcke, die in Schlaufen von ihren Handgelenken herab baumelten, hinter sich her schleifen. Ihre Waffen hatten sie schon gestreckt. Bald würden sie ihnen folgen.

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