Mutter ist nicht schuld

Bei Angsterkrankungen sollten die Symptome auch konkret behandelt werden. Weniger entscheidend ist die Erforschung der Familiengeschichte. Traumatische Erlebnisse wie Missbrauch und Gewalt begünstigen den Ausbruch der Erkrankung

VON BARBARA DRIBBUSCH

Die Nobelpreisträgerin konnte nicht zum Festakt erscheinen und erklärte auch öffentlich, warum: Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek leidet an einer Angsterkrankung, die es ihr erschwert, unter Menschen zu gehen. Auch der gefeierte Pianist Vladimir Horowitz litt zeitweise unter starken Ängsten, wagte sich kaum aus dem Haus und sagte Auftritte kurz vorher ab, weil er sich nicht auf die Bühne traute.

Angsterkrankungen werden immer häufiger in Arztpraxen diagnostiziert. Die Krankheit sei heute nicht mehr so stigmatisiert wie früher, sagt der Göttinger Psychiater Borwin Bandelow. Dabei zählen nicht nur Phobien wie Platzangst oder die Furcht vor Menschenmassen zu den Angsterkrankungen. Auch Patienten mit ständig wiederkehrenden Zwangsgedanken, etwa der Sorge vor Ansteckung mit einer gefährlichen Krankheit, oder einer inneren Beklemmung angesichts des ständig präsenten Gedankens, irgendwann mal sterben zu müssen, gelten als angstgestört. Was aber hilft den Patienten, deren Hirn sich so oft im Ausnahmezustand befindet, zu mehr Lebensqualität?

Die spezifische Wirksamkeit der kognitiven und verhaltenstherapeutischen Techniken bei Angsterkrankungen sei inzwischen gut belegt, erklärt Bandelow auf dem derzeit in Berlin stattfindenden Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Bei den Verhaltenstherapien werden die Patienten mit Hilfe des Therapeuten der Angst erzeugenden Situation ausgesetzt.

Im kognitiven Teil wird dem Patienten, etwa bei einer Zwangsstörung, erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit, sich mit einer tödlichen Erkrankung anzustecken, eher gering ist, es aber natürlich keine 100-prozentige Sicherheit gebe. Die kognitiven Behandlungen erfordern „auch die Kreativität des Therapeuten“, sagt der Lübecker Psychiater Fritz Hohagen. Patienten, die beispielsweise unter religiös unterlegten Zwangsgedanken leiden, bringt Hohagen im Laufe der Behandlung mit Geistlichen zusammen, die dem Betroffenen erklären, dass sein Leiden nichts mit Religion, sondern mit einer Störung im Hirn zu tun hat.

Neben der konkreten Behandlung der Symptomatik rät Bandelow seinen Patienten zu Sport – dass Laufen Angsterkrankungen günstig beeinflusst, ist belegt. Sogar die Ausübung von so genannten Risikosportarten wird mitunter von Therapeuten empfohlen. Wer sich beispielsweise wie beim Bergsteigen in Situationen begibt, die höchste Konzentration erfordern, kann in diese real riskante äußere Welt die innere Welt des „ständigen Aufgeregtseins“ besser integrieren als in eine Umgebung, in der doch „alles ganz normal“ ist.

Forschungen an Angstpatienten während der Bombenangriffe auf Belgrad im Bosnien-Krieg haben gezeigt, dass die Panikwerte dieser Leidenden während der Angriffe heruntergingen und nicht etwa stiegen, erzählt Bandelow. Wer auch die Umgebung als höchst ängstlich erlebt, kann unter Umständen selbst innerlich ruhiger werden.

Entspannungstechniken wie etwa das Autogene Training sind deswegen bei Angstpatienten nicht immer hilfreich – wenn das Erregungslevel zu hoch ist, kann der Versuch dieser Selbstbehandlung die Anspannung noch vergrößern, statt zu entlasten.

Wenn aber nun die spezifische Behandlung der Symptomatik, oft kombiniert mit der Behandlung durch Antidepressiva, gute Erfolge zeigt, sind dann Techniken wie die Deutungen der Psychoanalyse oder die Rollenspiele der Gestalttherapie nur Mumpitz? Die konkrete Wirksamkeit dieser Techniken bei Angsterkrankungen sind in der Tat nicht belegt – das aber bedeutet nicht, dass solche Behandlungen sinnlos sind.

Laut Studien sind nur 15 Prozent der Effekte eines Therapeuten oder einer Therapeutin auf die spezifische Behandlungstechnik zurückzuführen, so Bandelow. Der größte Teil, nämlich 85 Prozent, gelten hingegen als „unspezifische Effekte“. Dazu gehören die Zuwendung des Behandlers, die Hoffnung auf Heilung, die sich mit seinem Auftritt verbindet – all das wird von Leidenden als stabilisierend erlebt. In Krisensituationen, etwa nach Trennungen, könnten die unspezifischen Effekte einer Therapie deshalb durchaus entscheidend sein, meint Hohagen. Der Lübecker Psychiater ist gegen den „Kampf der Schulen“, plädiert aber dafür, bei Angsterkrankungen die Symptome „immer auch spezifisch mitzubehandeln“.

Das Interpretieren der Familiengeschichte mit Schuldzuweisungen an die Eltern jedenfalls ist „out“ in der Angstforschung. „Die Mutter ist nicht schuld“, sagt Bandelow. Angsterkrankungen entwickeln sich vielmehr aus einem komplexen Zusammenspiel zwischen einer genetisch bedingten „Vulnerabilität“ und psychosozialen Faktoren. Der konkrete „Erziehungsstil“ der Mutter, so Bandelow, habe sich laut Studien als nicht ausschlaggebend bei der Entstehung von Angsterkrankungen erwiesen. Angsterkrankungen bei Eltern oder Großeltern hingegen erhöhen das Risiko, selbst betroffen zu sein, erheblich. Auch traumatische Erlebnisse wie sexueller Missbrauch und Gewalt sowie frühkindliche Trennungserfahrungen begünstigen den Ausbruch der Erkrankung. Zudem ist entscheidend, welche Form der Angstbewältigung ein Mensch in seiner Kindheit gelernt hat.

Hohagen plädiert dafür, das Leiden nicht ausschließlich als Handicap zu sehen, „eine Vulnerabilität zu haben, bedeutet ja oft auch eine erhöhte Sensibilität, das muss nicht nur schlecht sein“. Auch mit einer Angsterkrankung lässt sich leben – und offenbar sogar der Literaturnobelpreis gewinnen.