ACHSE DES INDIEDANCE VON TOBIAS RAPP
: Kunstlieder, ausgesetzt im All

Es ist an sich schon ungewöhnlich, dass sich ein klassisch ausgebildeter Musiker in die Oberflächenwelt der Popularmusik begibt. Dass sich allerdings ein an einem klassischen Streichinstrument ausgebildeter Komponist an Disco versucht, das dürfte es seit Arthur Russells Experimental-Dancefloor nicht mehr gegeben haben. Kelley Polar ist in Dubrovnik geboren und in New York als Sohn kroatischer Diplomaten aufgewachsen. Mit drei Jahren begann er Geige zu spielen und studierte später an einer renommierten Musikhochschule der USA Komposition. Parallel dazu spielte er für seinen Kumpel Morgan Geist die Streicherarrangements für dessen Metro-Area-Platten ein.

„Love Songs Of The Hanging Gardens“ ist nach einigen großartigen Maxis nun sein erstes Album. Astro-Disco, ähnlich entrückt wie das Weltraumfoto auf dem Cover. Über Beats, die sich an den großen Italodisco-Nachbauten von Metro Area orientieren, legt Polar die wunderbaren Flächen seines Streichquartetts. Beim Songwriting orientiere er sich am europäischen Kunstlied, ließ er verlauten. Das klingt wie Brian Wilson, würde er zusammen mit Laurie Anderson noch einmal „Oh Superman“ aufnehmen. Und ist auch das Einzige, das dieser wunderbaren Musik ein wenig in die Quere kommt: Sie ist eine Discofantasie. Sie lebt in einer untergegangenen Wunderwelt, die es so nie gegeben hat – als Orchestermusik Pop war, alt und jung kein Widerspruch und sich der Glamour von allein ergab.

Kelley Polar: „Love Songs Of The Hanging Gardens“ (Environ/Alive)

Der Volkswagen-Bass

Wo Kelley Polar seinen Charme aus der sperrigen Schönheit seiner Stringarrangements bezieht – man glaubt bei den Flächen, jede einzelne Geige hören zu können –, verführen Tussle mit einem gegensätzlichen Konzept. Zwar haben sie ihren Soundkompass ganz ähnlich an Spätsiebzigern und Frühachtzigern ausgerichtet, lassen aber von Funk und Disco nur nur das rhythmische Gerüst übrig: Bass und Schlagzeug.

Tussle sind ein Quartett aus San Francisco und haben sich in den vergangenen Jahren in Nordamerika den Ruf einer fantastischen Liveband eingespielt, „Kling Klang“ ist ihr Debütalbum. Es folgt Gruppen wie Liquid Liquid auf dem in den Achtzigern eingeschlagenen Weg, dessen Koordinaten in jener kurzen Zeit festgelegt wurden, als Punk, Funk, Disco und Dub ineinander übergingen. Es nimmt sich vom Punk die Roughness, vom Funk das Zusammenspiel, von Disco die Tanzbarkeit, vom Dub die Reduktion und das Wissen darum, dass man Unwesentliches besser weglässt. Einwenden könnte man gegen dieses Konzept höchstens, dass man dieses Bassgefedere nie zu fassen kriegt. Es läuft und läuft und läuft einfach weiter. Wäre man böswillig, man könnte Tussle nachsagen, ihre Musik höre sich an, als wollten sie sich für den Job der DFA-Studioband bewerben – jenes New Yorker Label, bei dem Bands wie The Rapture und LCD Soundsystem unter Vertrag sind. Da aber legen sie schon die nächste überdrehte Gesangslinie drüber.

Tussle: „Kling Klang“ (Smalltown Supersound/Rough Trade)

Dunkle Materie schwingt

Jan Jelinek hätte es auch einfacher haben können. Mit seinen Projekten Gramm und Farben war er einer der prägenden Produzenten jenes minimalistischen House-Sounds, der um die Jahrtausendwende herum hoch gehandelt wurde. Und gerade weil seine Musik immer auch von ihrer tiefen Liebe zu Soul und Disco lebte, wäre es mit Sicherheit ein Einfaches für ihn gewesen, jenen discofizierten Sound zu produzieren, der die reduzierten House-Entwürfe von den Tanzflächen verdrängt hat.

Er wollte es anders und hat mit „Kosmischer Pitch“ ein Album eingespielt, das seine Referenzen aus einem ganz anderen Kontinuum bezieht: Krautrock. Aus der Mode der vorletzten Saison, wenn man so will. Doch so abgelegen dieser Bezug auf den ersten Blick zu sein scheint: er ist es nicht. Zum einen, weil Jelinek auf seinen letzten Platten immer schon mit offenen Formen und Elementen der Improvisation hantiert hat – und live mittlerweile mit einer Band spielt, die sich anhört wie eine Mischung aus Neu! und Hawkwind. Vor allem aber weil er mit seinen krautifizierten Loops tatsächlich sehr nah an das herankommt, was Krautrock bis heute zur „kosmischen Music“ macht: ein in seinen besten Momenten ekstatisches Flirren und Schlieren. Ob es das aus düsterer Materie herausgeschlagene Stop-and-Go-Gewaber von „Planeten in Halbtrauer“ ist oder das etwas lichtere „Im Discodickicht“ – die Stücke dehnen und strecken sich, ohne in diesem Raumtaumel je an Bestimmheit zu verlieren.

Jan Jelinek: „Kosmischer Pitch“ (Scape/Indigo)