Sicherheit deutscher AKWs: Die Kesselflicker vom Kernkraftwerk
Seit jeher wird beteuert, deutsche Atomkraftwerke seien sicher. Das ist und war falsch - auch schon vor der Katastrophe in Japan, wie zahlreiche Störfälle zeigen.
BERLIN / FRANKFURT/MAIN taz | Sie sind wortkarg in diesen Tagen, die Besitzer und Betreiber deutscher Atomkraftwerke. Wenn ein Sprecher etwas sagt, dann nur, dass es zu früh für voreilige Schlüsse sei. Das Deutsche Atomforum hat eine Pressemitteilung im Namen von RWE, Eon, Vattenfall und EnBW herausgegeben und signalisiert: Betroffenheit, Deutschland ist kein Tsunami-Land, wir helfen gern. Öffentlich gibt es wenig zu sagen. Die Versicherung der Sicherheit deutscher Atomkraft klang auch schon vor der japanischen Tragödie nicht glaubhaft, angesichts der Historie an Pannen und Unglücken, die man zum Teil auch noch zu vertuschen versucht hat. Ein Überblick:
Eine Rohrleitung explodiert, die direkt an den Reaktor angeschlossen ist. "Wäre die Explosion etwa drei bis vier Meter weiter in Richtung Reaktordruckbehälter aufgetreten, so wäre die druckführende Umschließung partiell zerstört worden", heißt es später in einer Drucksache des Bundestags. Reiner Zufall also, dass der Reaktor selbst nicht beschädigt worden ist, was zu einem schweren Unfall bis hin zu einer Kernschmelze hätte führen können. Als Grund wurde später Knallgas ausgemacht, das an der Stelle gar nicht hätte vorkommen dürfen - zumindest nach Einschätzung der Betreiber: die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HWE), Eigentümer sind Vattenfall und Eon. Die HWE versuchten, die Sache zu verharmlosen, und meldete den Störfall erst drei Tage später. Erst nach einer Analyse der gesammelten Daten durch das Umweltministeriums in Kiel ließ HWE den Vorfall untersuchen. Der Reaktor blieb bis Februar 2002 in Betrieb. Erst danach wurde er zunächst für ein Jahr abgeschaltet. 2007 gelangte eine Mängelliste des Kraftwerks von Vattenfall an die Öffentlichkeit, es gab Probleme beim Wiederanfahren nach einer Notabschaltung wegen eines Kurzschlusses. Seither ist das Kraftwerk vom Netz - Eon und Vattenfall wollen es aber wieder hochfahren.
Beim Anfahren des Reaktors klemmt ein Ventil, das den Reaktorkreislauf absperrt. Die Bedienungsmannschaft ignoriert fünfzehn Stunden lang eine Warnlampe. Erst später wird ein zweites Ventil geöffnet. Doch der Reparaturversuch misslingt. 107 Liter radioaktives Kühlwasser fließen in den Ringraum außerhalb des Sicherheitsbehälters und gelangen von dort in die Atmosphäre. Das Sicherheitsventil kann danach noch manuell geschlossen werden. Ansonsten wären noch größere Mengen radioaktiven Kühlwassers ausgetreten. Das hätte zu einer Kernschmelze und damit zum GAU führen können. Die Betreibergesellschaft RWE vertuscht den gravierenden Störfall. Erst durch einen Bericht in einer US-Fachzeitschrift zwei Jahre später wird bekannt, dass Südhessen und Rheinhessen nur knapp einer atomaren Katastrophe entgangen waren. Seit Inbetriebnahme 1974 und 1976 verursachten die beiden Blöcke über 800 "meldepflichtige Ereignisse", sprich: Pannen. Während einer Revision 2007 entdeckten externe Experten 15.000 falsch montierte Spezialdübel im Sicherheitssystem zur Schadensminimierung bei kleineren Erdstößen. Glück gehabt: Ein mittelstarkes Beben erschütterte die Region erst nach dem Austausch der Dübel.
Bei einer Revision in Block II des Kraftwerks wird reines Wasser ohne Borsäure in die Flutbehälter gefüllt. Dies wurde vom Personal zunächst nicht bemerkt. Auch in zwei weiteren Tanks war die Konzentration zu niedrig. Eine mögliche Folge wäre eine nicht ausreichende Kühlung der Brennstäbe gewesen - und zwar auch beim Anspringen der Reservesysteme, weil das Personal in alle Tanks zu wenig Borsäure gefüllt hatte. Zudem wurde bekannt, dass die Reaktoren jahrelang ohne genügend Kühlwasser nach Revisionen wieder angefahren worden sind.
Ein Transformator auf dem Gelände des AKWs brennt, es kommt zu einer Schnellabschaltung des Reaktors. Das Werk kommt fast zwei Jahre nicht zurück ans Netz. Vattenfall räumt ein, dass die Schnellabschaltung auch im Herzstück der Anlage eine Panne auslöste. Ein Jahr später kommt es zu einem Schwelbrand in einer Lüftungsanlage. 2009 kommt es wieder zu einer Reaktorschnellabschaltung. Das Kraftwerk hatte zu wenig Strom zur Eigenversorgung, wodurch es zu Problemen bei der Kühlung kommen kann. Dabei wurde eine Chlorgaswolke freigesetzt.
30.000 Liter kontaminiertes Wasser gelangen in den Rhein, weil eine Pumpe bei der jährlichen Überprüfung am Schnellabschaltsystem nicht abgestellt wurde. Betreiber EnBW erntet Kritik, weil er den Störfall erst einen Tag später der Atomaufsicht meldete.
Insgesamt gab es bei den alten Atomkraftwerken in Deutschland in den vergangenen drei Jahren mehr als doppelt so viel gemeldete Störfälle wie bei den Meilern neueren Baujahrs. Das ergibt eine Auswertung der offiziellen Störfall-Statistik durch die "Ärzte gegen den Atomkrieg" (IPPNW). Demnach wurden aus den "Uralt-Druckwasserreaktoren" Biblis A, Biblis B, Unterweser bei Nordenham und Neckarwestheim 1 zwischen 2007 und 2009 insgesamt 35-mal Risse, Befunde oder Leckagen gemeldet, wie die Organisation am Freitag in Berlin mitteilte. Bei den neueren Anlagen seien im gleichen Zeitraum "nur" 15 Meldungen eingegangen.
Bei der Betrachtung der gesamten Betriebsdauer und aller Vorkommnisse kämen die neueren Atomkraftwerke durchschnittlich auf vier meldepflichtige Ereignisse jährlich, heißt es weiter. Bei den Altmeilern waren es durchschnittlich zwölf pro Jahr beziehungsweise jeden Monat einer. Vergleichbar sei auch die Situation bei den Siedewasserreaktoren. "Uralt-Anlagen" wie Philippsburg 1, Isar 1, Brunsbüttel und Krümmel meldeten im Durchschnitt rund dreimal mehr Störfälle als die neuen Reaktoren. An die Bundesregierung und die betreffenden Bundesländer appellierte IPPNW, die sofortige Stilllegung der aufgeführten Altmeiler zu beschließen. (mit Agenturmaterial)
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