Ab in die Platte

WOHNRAUM Zwei Investoren kaufen ein baufälliges Bürogebäude in Lichtenberg und wandeln es in günstige Wohnungen um – der Bezirk unterstützt sie dabei

■ Das Q216 ist ein alter Bürokomplex an der Frankfurter Allee in Lichtenberg. Die Investoren Ulrich und Lakomski haben ihn gekauft und 438 Einzimmerwohnungen auf elf Etagen gebaut. Das Angebot richtet sich an eher einkommenschwache Gruppen wie Studenten, Renter und Arbeitslose.

■ Im „Bündnis für Wohnen“ hat der Bezirk Lichtenberg mit einer Gruppe von Investoren den Bau von 8.000 neuen Wohnungen in den nächsten fünf Jahren vereinbart. Dabei soll ein sozial ausgewogener Mix entstehen. Der Umbau alter Industrie- und Bürogebäude lohnt sich: Es geht schnell und ist umweltfreundlich.

VON FELIX AUSTEN

Sofia Freitag sitzt am Küchentisch ihrer ersten eigenen Wohnung. Holzregale teilen das Einzimmerapartment in Küchen- und Wohnbereich auf, Obst, leere Flaschen und Heftordner stehen herum. Es sieht belebt aus, nicht so, als sei Sofia erst vor wenigen Wochen eingezogen. „Meine Mutter hat den Umzug lange geplant“, sagt sie. „Wir waren gut vorbereitet.“ Die Achtzehnjährige ist letzten Sommer aus Leipzig nach Berlin gezogen, um Economics an der Technischen Universität zu studieren. Seit Ende November wohnt sie in einem ehemaligen Bürogebäude in Lichtenberg, dem Q216. „Für meine Bedürfnisse passt es perfekt“, sagt Sofia und lächelt.

Lauter Betonplatten

Das Q216, dessen Name von seiner neuen Funktion als Quartier in der Frankfurter Allee 216 kommt, sieht aus wie ein Stapel aus Glas- und Betonplatten. In die Zange genommen wird er von der sechsspurigen Frankfurter Allee und dem Gleisfeld des Bahnhofs Lichtenberg. Auf die Fassade ist über fünf Stockwerke hinweg der lila Schriftzug „Q216“ gepinselt, im Inneren verteilen sich 438 Einzimmerwohnungen auf rund 20.000 Quadratmeter. Jede Einheit besteht aus einem Wohnraum mit Kochzeile und Bad, alle Wohnungen sind behindertengerecht.

Zwei private Investoren, Lutz Lakomski und Arndt Ulrich, der Makler Thomas du Chesne und jede Menge Bauarbeiter haben den Komplex im Laufe des letzten Jahres vom Büro- in das Wohnhaus umgewandelt. Hier finden jetzt vor allem Studenten, Arbeitslose und Rentner eine Bleibe. Etwa 10 Prozent der Bewohner, sagt Makler du Chesne, seien Sozialhilfeempfänger.

Erst war geplant, den elfstöckigen Klotz, in dem früher die Verwaltung des Bahnbetriebs der DDR arbeitete, einzureißen und ein Fachmarktzentrum zu bauen, also Kleidungsdiscounter und Supermärkte. So hatten es die Investoren Lakomski und Ulrich in den vergangenen Jahrzehnten schon in Berlin, Friedrichshafen und fünf Kleinstädten ihrer Heimat, dem Westerwald, vorgemacht. Als die beiden das Gelände samt Gebäude 2009 kauften, sah die Stadt allerdings keinen Bedarf an einem weiteren Shoppingklumpen und genehmigte das Zentrum nicht. Auf der Suche nach einer anderen möglichen Nutzung des Areals sei dann Thomas du Chesne auf sie zugekommen, sagt Lakomski, und habe den Umbau vorgeschlagen.

Mit dem Makler du Chesne hatte das Investorenduo schon Erfahrung im Umbau alter Lichtenberger Nutzbauten zu Wohnraum gesammelt. Zwei ehemals kränkelnde Objekte haben sie gemeinsam wieder aufgepäppelt: Ende 2011 installierten sie 86 Mietwohnungen in den oberen Etagen des ehemaligen Kaufhauses am Anton-Saefkow-Platz, Anfang 2012 folgten 70 Eigentumswohnungen in der alten Zuckerwarenfabrik in der Konrad-Wolf-Straße.

25 Millionen Euro haben Ulrich und Lakomski in das Q216 gesteckt, der Großteil Eigenkapital. In 30 bis 35 Jahren sei die Summe je nach Zinslage wieder eingespielt, sagt Lakomski: „Davon sehen unsere Enkel was.“ Auch Bürofläche sei aktuell Mangelware in Berlin und als Nutzungszweck für das Q216 in Betracht gekommen. Dass die beiden sich trotzdem für den verhältnismäßig günstigen Wohnraum entschieden haben, liege an dem überzeugenden Konzept, das du Chesne den beiden vorgelegt habe.

Von der Idee, viele noch bezahlbare statt wenige teure Wohnungen zu bauen und dabei auch noch Leerstand wiederzubeleben, ist auch der Bezirk Lichtenberg überzeugt: Im „Bündnis für Wohnen“ haben der Bezirk und eine Gruppe von Investoren und Immobilienfirmen – darunter Ulrich, Lakomski und die Wohnungsbaugesellschaft Howoge – vereinbart, wie sie in den nächsten Jahren den Wohnraum schaffen wollen, den der Bezirk so dringend braucht. Das Papier ist zwar rechtlich nicht bindend, soll aber dazu beitragen, dass die angestrebte Mischung neuer Wohnungen entsteht – also kaum Luxuslofts, sondern mehr kleine und preiswerte Wohneinheiten.

„Bis Ende 2014 wollen wir so den Bau 3.000 neuer Wohnungen genehmigen“, sagt Wilfried Nünthel (CDU), Stadtrat für Stadtentwicklung. Weitere 5.000 sollen bis 2018 folgen. Dafür würden vor allem leerstehende Büro- und Industriebauten umfunktioniert. Von denen gebe es in Lichtenberg genügend. Außerdem spare das Kosten, weil die Gelände bereits mit Strom- und Wasserleitungen erschlossen seien und nicht von Grund auf neu gebaut werden müssten. „Und ökologischer ist es auch: Es fällt kaum Bauschutt an.“ Mit Ulrich und Lakomski arbeite man zusammen, weil beide mit dem Kaufhaus und der Zuckerfabrik bereits den Beweis erbracht hätten, auch schwierige Immobilien erfolgreich umwandeln zu können.

Beim Bezirk ist das Interesse an sozial ausgewogenen Wohnungen klar. Den Investoren hilft das Projekt, den Fuß in der Tür des Bezirks zu behalten und schnell und unkompliziert mit den Behörden zusammen arbeiten zu können. Der Bezirk wisse nun, dass er sich auf sie verlassen könne, sagt Lakomski, weitere Projekte seien schon in Planung. „Wir können Platte“, sagt er. Zudem erhielten die Investoren sehr günstige Energieverträge, weil sie wegen der vielen Wohnungen große Mengen Strom und Wärme abnähmen – Mengenrabatt. Davon profitierten letztlich auch die Mieter.

In den nächsten fünf Jahren sollen 8.000 neue Wohnungen in Lichtenberg entstehen – dafür werden vor allem alte Büro- und Industriebauten umfunktioniert

Der erste Schritt im „Bündnis für Wohnen“ sind die 438 Einzimmerwohnungen des Q216. Rund die Hälfte der Zimmer ist seit Ende November vermietet, die andere Hälfte des Hauses wird Ende April fertig sein und sei auch schon zu 30 Prozent vergeben, sagt du Chesne. 25 Quadratmeter kosten 299 Euro, 35 Quadratmeter gibt es für 378 Euro. Damit liegt der Quadratmeterpreis bei rund 11 Euro, also 2 bis 3 Euro über dem Durchschnitt in der Gegend. Die Wohnungen seien aber kleiner als die meisten vergleichbaren Objekte, erklärt du Chesne: „Deshalb sind sie für Singles geeignet, die brauchen ja keine drei Zimmer.“

Vor dem Q216 liegen ein Discounter, eine Tankstelle und Parkplätze, zum Eingang des Hauses führt ein Steg über eine Mulde, die das Haus wie einen Burggraben umgibt. In den Vertiefungen stehen Fahrradständer, dazwischen liegt ein dünner Rasenflaum. Das Foyer hat den Charme eines Tresorraums mit quadratmeterweise Briefkästen und einem kleinen Fenster, hinter dem später mal ein Nachtwächter sitzen soll.

Aus dem Foyer führen weiße, sterile Flure zu den Wohnungen: Popart-Drucke hängen an den Wänden, Neonröhren kleben in schrägen Winkeln an der Decke, darum bemüht, die Szene ein wenig aufzulockern. „Unsere Mieter sollen sich wohlfühlen“, sagt Lakomski.

Noch dringt der Wohlfühlfaktor nicht zu allen Bewohnern durch: Abdoulei Faal sitzt in seiner kahlen, dunklen Wohnung im dritten Stock, seit zwei Wochen wohnt er im Q216. „Ich habe noch kein Licht hier“, sagt der 23-jährige Berufsschüler. Lampen und andere Einrichtung können die Bewohner aus dem Katalog eines Möbelhauses aussuchen, mit dem die Vermieter zusammenarbeiten. Die Waren werden dann direkt geliefert und eingebaut. Sucht man keine Lampe aus, so wie Faal, sitzt man erst mal im Dunkeln. „Egal, die Leuchte hier reicht“, sagt er und knipst die kleine Nachttischlampe auf der Fensterbank an. Im Dämmer zeichnet sich eine Schlafcouch ab, ein Flachbildschirm und eine Stereoanlage stehen davor auf dem Boden. Noch ein paar Kartons, ein Fahrrad, viel mehr gibt es nicht in seiner Wohnung.

Wie die meisten Bewohner hat Faal sein Apartment im Internet gefunden: In vielen gängigen Wohnungsbörsen erscheint das Q216 an erster Stelle. „Davor habe ich bei meiner Freundin in Kreuzberg gewohnt“, erzählt er. Als die sich verabschiedete, war auch die Wohnung weg. Oft sitze er am Fenster, das sich über eine ganze Seite der Wohnung erstreckt, und beobachte die Straße. Die Tankstelle und die sechsspurige Asphaltpiste liegen in seinem Blickfeld, Autos und Lastwagen rauschen durch den Regen. „Jetzt bin ich wieder ledig“, sagt Faal. „Aber es ist in Ordnung, hier zu wohnen.“