KURZ ANHALTEN. FÜR EINEN MOMENT LANG DEM NEBEN- UND DURCHEINANDER DES ALLTAGSLEBENS IN DER GROSSSTADT ZUHÖREN. AN IGGY POP DENKEN, WIE ER DAMALS IN DER S 1 SASS
: Soundcollagen rund um den Schnellimbiss „Zum Eumel Snack“

VON DIRK KNIPPHALS

Die Ecke Mansteinstraße/Großgörschenstraße, gleich hinter dem S-Bahnhof Yorckstraße steht jetzt schon seit über einem Jahr unter meiner Beobachtung. Ich radle oder laufe da immer wieder vorbei, auf dem Weg zur Arbeit oder auch einfach nur so, bleibe dann stehen, sehe mich um und horche in mich hinein, ob mir hier gerade etwas auffällt.

Aber es fällt mir nie etwas auf. Jedenfalls kein Anhaltspunkt oder Hinweis auf eine in sich geschlossene Geschichte oder These, mit der man diese Ecke kolumnenmäßig in den Griff kriegen könnte. Stumm blickt diese Ecke auf den Kolumnisten zurück. Dabei steckt gerade sie voller großartiger Details. Da gibt es dieses ochsenblutrot gestrichene, ehemals besetzte Haus, hinter dessen meist festungsartig heruntergelassenen Rollläden im Erdgeschoss oft Punkmusik hervordudelt. Natürlich ist es in Augenhöhe mit Plakaten und Graffitisprüchen zugekleistert, die sich im Ganzen lesen wie eine Wandzeitung über die neuesten Brennpunkte und Slogans des Linksradikalismus. „Widerstand“, „Zwangsräumung verhindern“, „Eine kommunistische Welt ist möglich“. Aufrufe, linksradikales Pfeifen im kapitalistischen Walde, und die Wohnungen darüber liegen im Kontrast dazu manchmal ganz entspannt und wohnlich in der Sonne. Dann gibt es die Unterführung. Rostige Träger wie die Zeugen einer untergegangenen Zivilisation. Man geht da durch, während gerade einmal zwei Meter über dem eigenen Kopf die S-Bahn-Züge über einen hinwegdonnern. S 1, die Linie, mit der Iggy Pop von hier aus oft an den Wannsee fuhr; seine Hymne „Passenger“ besingt das Gefühl, in einer Berliner S-Bahn zu sitzen und an den Rückseiten der Häuser entlangzuschweben.

Hier in dieser Unterführung mit ihren graffitibemalten Wänden, ihrer Enge und ihrer romantischen Tristesse könnte man noch heute einen Film über das Westberlin der siebziger Jahre drehen. Aber wenn man dann die Treppe zum Bahnsteig hochgeht und sich umdreht, sieht das alles eher wie eine Idylle aus dem 19. Jahrhundert aus. Bäume. Blätterrauschen. Die malerische Kirche des Friedhofs St.-Matthäus-Kirchhof, auf dem es ein märchenhaftes, kleines Café gibt und die Brüder Grimm sowie Rio Reiser beerdigt sind.

Bewacht wird die Unterführung, jetzt sind wir wieder unten, von einer Holzhütte, auf der „Schnellimbiss Zum Eumel Snack“ steht, was aber gelogen ist, denn schnell ist in diesem Imbiss gar nichts. Es ist der soziale Bezugspunkt einer Gruppe alkoholinteressierter Menschen, die hier ihre Tage vertändeln, als hätten sie alle Zeit der Welt. Haben sie wahrscheinlich auch. Wenn man sich hier umguckt, gehört das kehlige Lachen, das man aus ihrer Richtung hört, zum Soundtrack dieses Ortes dazu wie die Geräusche der S-Bahn und die Punkmusik.

So stumm, fällt mir gerade auf, ist die Ecke gar nicht. Als Soundcollage macht sie sich sogar ganz gut. Mittwochs und samstags kommen noch die Rufe der türkischen Händler hinzu, die, denke ich mir manchmal, großen Spaß daran haben, hier mit lockenden Preisausrufen die Atmosphäre eines türkischen Kleinstadtbasars zu inszenieren. Wochenmarkt auf dem abschüssigen asphaltierten Platz entlang der S-Bahn-Gleise: das kleine, preiswerte Gegenstück zu dem Schöneberger Vorzeigemarkt auf dem Winterfeldtplatz. Biogemüse suchst du hier an der Großgörschenstraße vergeblich. Dafür gibt es gegen Mittag zwei Kilo Tomaten für 79 Cent und die ganze Kiste Mangos für einen Euro, was die Händler dann geradezu triumphierend ausrufen. Keine Ahnung, wie sich das rechnet. Wie passt das alles zusammen?

Irgendwie gar nicht. Keinen Trend kann man hier entdecken und keine neue Berlin-Erzählung starten. Aber man kann immer wieder kurz anhalten und für einen Moment lang dem Neben- und Durcheinander des Alltagslebens in der Großstadt zuhören.