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BERLINER VERHÄLTNISSE IN DER PROVINZRüpelhafte Rentner sind auch nicht normal

VON DORIS AKRAP

Vor ein paar Tagen musste ich in der Transithalle des Stuttgarter Flughafens auf einen Anschlussflug nach Tegel warten. Im Gourmetangebot gab es weder Maultaschen, Spätzle noch Ofenschlupfer, sondern bayerische Weißwürste, McCurrywurst, mit Fenchelsalami belegtes italienisches Ciabatta und thailändischen Guavensaft. Für die Ohren bot ein lokales Stuttgarter Radioprogramm musikalische Spezialitäten von BAP (Köln), Rodgau Monotones (Rodgau) und Seeed (Berlin) und nichts von den Fantastischen Vier. Jäh unterbricht die Nachrichtensprecherin das Musikprogramm mit folgender Eilmeldung: „Rentner fährt Fußgänger an“. Einige Mitwartende schmunzeln über diese sonderbaren Schwaben.

Doch die Details dieser Provinzposse, die nach Verlesung der Schlagzeile ausgeführt werden, spielen den Mitwartenden ein Staunen ins Gesicht: Ein 74-Jähriger habe bei Böblingen einen 33-Jährigen absichtlich mit seinem Auto angefahren, weil der 33-Jährige den Parkplatz, auf den der 74-Jährige sein Auto stellen wollte, nicht schnell genug überquerte. Der 33-Jährige sei fußkrank gewesen und habe nur humpeln können. Das sei dem 74-Jährigen zu langsam gegangen, weswegen er dann gehupt und sich mit dem 33-Jährigen ein Wortgefecht geliefert habe und dann aufs Gaspedal getreten sei. Bei seiner polizeilichen Vernehmung sei der 74-Jährige „nicht einsichtig“ gewesen.

Droht in Böblingen die Verrohung des alltäglichen Lebens? Hat Böblingen ein Gewaltproblem? Tritt in Böblingen Rüpelhaftigkeit an die Stelle von Toleranz? Wo liegen die Ursachen? Vom kulinarischen Angebot über die miese Flughafenmusik – nähert sich die schwäbische Provinz den Berliner Verhältnissen an?

In Berlin hält Gewaltproblemsenator Frank Henkel (CDU) am Donnerstag einen Vortrag in der Urania über die „Verrohung des alltäglichen Lebens“, „Egoismus, Rüpelhaftigkeit und immer häufiger auch Gewaltanwendung“, die an die Stelle von „Werten“ getreten sei. Zwischen den Vorträgen „Chronischen Kopfschmerzen – Neue Therapieansätze“ und „Die Hurtigruten – Norwegen mit dem Postschiff zu unterschiedlichen Jahreszeiten“ wird Henkel über seine Passion „Gewalt in Berlin. Was sind die Ursachen? Welche Gegenstrategien gibt es?“ diskutieren und nach Lösungen suchen, wie „normale Verhaltensweisen“ wieder hergestellt werden können.

Henkel hatte sich erst Anfang der Woche anlässlich der Ausschreitungen gegen den Polizeikongress in Berlin wieder mal „entsetzt“ gezeigt und von „Bildern, die keiner sehen will“ gesprochen. Ob man es nun gern sehen will, dass die Bundesdruckerei in der Oranienstraße brennt oder nicht – sinnvoll ist es nicht gerade, alle möglichen Gewalttaten in einen Topf zu werfen und dabei rüpelhaft gegen alles zu poltern, was nicht „normal“ ist. Am Ende wird Henkel einfach nur so enden wie der 74-Jährige aus Böblingen, für den ein humpelnder Parkplatzüberquerer auch nicht normal ist.

In Tegel angekommen, fährt mir auf dem Weg zum Bus ein alter Mann mit seinem Rollkoffer über die Füße. Entschuldigen tut er sich nicht. Ach ja, ich bin wieder zu Hause. Oder ist das jetzt Böblingen?

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