Kolumne Gerüchte: Wo hängt der schwäbische Japaner?

Mein Urgroßvater warf sich vor die Dampflokomotive. Es war seine Art, "Entschuldigung" zu sagen.

Außer für ihre Technikgläubigkeit bewunderte ich bis vor wenigen Wochen die Japaner vor allem für ihre Kunst, "Entschuldigung" zu sagen. Sie bogen den Oberkörper in einem Winkel von 35 Grad nach vorne, senkten den Blick zu Boden und murmelten Wörter die klangen wie "Kyuuhai" oder "shitsurei shimashita".

Nie hätte ich einem Japaner in einer solchen Demutshaltung böse sein können, selbst wenn er mit seinem Toyota meine Mutter überfahren hätte. "Kyuuhai" oder "shitsurei shimashita". Kann ja passieren, würde ich antworten, ist jetzt eh nicht mehr zu ändern, bitte richten Sie sich wieder auf.

Einem wohlerzogenen Japaner, und alle Japaner sind wohlerzogen, ist es in diesen Tagen sehr peinlich, dass die ganze Welt sich Sorgen macht nur wegen ihnen. 127 Millionen Japaner stehen derzeit innerlich mit um 35 Grad geneigtem Oberkörper auf ihren Inseln und bitten die Welt um Entschuldigung.

PHILIPP MAUSSHARDT vertritt die bücherschreibende Barbara Dribbusch.

Noch am Tag des Bebens baten die Ingenieure des Atomkraftwerks Fukushima ihre Vorgesetzten um Entschuldigung, weil sie die beschädigten Reaktoren nicht unter Kontrolle brachten, die Vorgesetzten baten die Firmenleitung um Entschuldigung, weil sie die Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehalten hatten, und der Vorstandsvorsitzende der Betreibergesellschaft Tepco bat die Regierung um Entschuldigung, dann verschwand er von der Bildfläche. Seit einigen Tagen hat ihn niemand mehr gesehen.

Wenn die Dinge nicht mehr zu ändern sind und der Japaner dies erkennt, nimmt er sich das Leben. Das hat man ihm so beigebracht. Als beispielsweise die 27. Infanterie-Division der US-Armee im Juni 1944 nach tagelangen Kämpfen mit japanischen Truppen die südpazifische Insel Saipan unter ihre Kontrolle brachte, stürzten sich alle noch lebenden Japaner, ob Männer, Frauen oder Kinder, von einem hohen Felsen ins Meer. Im 180-Grad-Winkel.

So sind sie, die Japaner. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, das Gerücht stimmt, der seit Dienstag nicht mehr gesehene Tepco-Chef Masataka Shimizu habe sich aus Scham umgebracht. Ich könnte mir sogar vorstellen, er liegt im Abklingbecken von Block 3.

Als mein Urgroßvater zu alt geworden war, um als Arbeiter im Weinberg der Familie noch hilfreich zu sein, nahm er sich, einer alten Winzertradition folgend, das Leben. Man wollte den Nachkommenden nicht zur Last fallen. Er war ein fortschrittsgläubiger und technikbegeisterter Mann, der sich aus diesem Grund nicht wie seine Vorfahren in der Weinberghütte an einem Strick erhängte, sondern vor eine Dampflokomotive warf auf der Strecke zwischen Stuttgart und Tübingen. Als ein Polizist die Familie mit den Worten informierte, dem Großvater sei "etwas passiert", fragte dessen Frau trocken: "Wo hängt er?"

Sie irrte. Die Geschichte, wenngleich auch 72 Jahre her, wird in unserer Familie noch immer gerne erzählt. Sein Selbstmord war auch eine Art, "Entschuldigung" zu sagen, dafür, dass er zum Arbeiten zu alt geworden war. Ein schwäbischer Japaner.

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Journalist, Mitbegründer der Zeitenspiegel-Reportageschule, hält Brandenburg für die neue Toskana.

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