"Moderato Contabile" auf DVD: Fremdheit in nächster Nähe
Der Film "Moderato Contabile" des Theaterregisseurs Peter Brooks kam 1960 in Italien raus. In Deutschland trägt die DVD den Untertitel "Stunden voller Zärtlichkeit".
Im ersten Stock spielt der Sohn eine Sonatine (Tempoangabe: "moderato cantabile"), da ertönt im Erdgeschoss ein schriller Schrei. Der Sohn unterbricht das Klavierspiel, stürzt zum Fenster, die Klavierlehrerin kommandiert ihn zurück ans Instrument. Wie stets in der Klavierstunde sitzt die Mutter, die Industriellengattin Anne (Jeanne Moreau), mit im Zimmer. Von draußen dringt Lärm in den Raum. Darauf gehen Mutter und Sohn doch nach unten: In der Bar liegt eine Frau, tot, schwarz gekleidet, erdrosselt, ein Mann wirft sich auf sie, zärtlich, verzweifelt, er ist der Mörder.
Mit dieser Tat, diesem Schrei, zerreißt etwas in Annes Leben. Prächtig ist die Villa, reich ist der Mann, unerfüllt ist ihre Existenz in der am Meer gelegenen nicht sehr großen Industriestadt nahe Bordeaux. Es ist viel Nebel, man hört das Tuckern der Boote, den Lärm von Fabriken, das Klack-Klack vom Billardtisch überdeutlich im Hintergrund. In der Bar sitzt Anne an der Theke, betrinkt sich mit Wein. In der Bar ist auch ein attraktiver Mann (Jean-Paul Belmondo), mit dem sie etwas beginnt. Eine verzweifelte Affäre, kaum verborgen vor den Augen der Kleinstadt, in diesem Café, auf Wegen am Ufer des Meers, in einem Wald, der Sohn oft dabei. "Moderato Cantabile" war der Kurzroman, mit dem Marguerite Duras ihren Durchbruch erzielte. Zum Film, den der heute als Theatermann legendäre Peter Brook drehte, schrieb sie das Drehbuch, gemeinsam mit Gérard Jarlot.
Der Mann stellt sich vor als "Chauvin", kein Vorname. Er ist Arbeiter, sagt er. "Moderato Cantabile" ist vieles, nur keine Sozialstudie, eher ein Film über zwei Menschen, die sich begegnen, die etwas voneinander wollen, die sich eine Affäre herbeifantasieren, dabei aber in Wirklichkeit nie einen gemeinsamen Boden, einen gemeinsamen Raum, eine gemeinsame Sprache finden können. Höhepunkt dieser Fremdheit in nächster Nähe ist eine Szene, die Peter Brook markant auflöst: Moreau und Belmondo stehen einander gegenüber, in Schnitt und Gegenschnitt zeigt er groß sein Gesicht, ihr Gesicht im Profil. Sie finden nicht gemeinsam ins Bild, am Ende schließt Anne die Augen, kippt seitlich weg, Schnitt.
Duras' Roman erschien 1958, die Verfilmung kam 1960 ins Kino, zwei Monate nach Jean-Luc Godards "Außer Atem", der Jean-Paul Belmondo zum Superstar machte. Auch "Moderato Cantabile" war damals ein Erfolg, geriet seither ziemlich in Vergessenheit und hat ästhetisch mit der "Nouvelle Vague" wenig zu tun. Es handelt sich eher um ein tendenziell melancholisches mood piece mit großartigen Momenten, fabelhaft auf Distanz spielenden Hauptdarstellern und jenem leichten Stich ins Kunstgewerbe, den Duras' Sachen manchmal bekommen, wenn sie in die Hände von Regisseuren geraten, die nicht ganz so große Meister der Enteindeutigung sind wie Alain Resnais ("Hiroshima mon amour") oder eben sie selbst.
Trotzdem: Als kühl-sepiadunkle Studie über zwei verlorene Liebende, denen auf der Tonspur und anderswo immer etwas dazwischengerät - einmal ein mit dem Reifen spielendes Mädchen, ziemlich oft die irreführend liebliche Sonatine, am Ende dann der leicht amokfahrende Ehemann -, hat der Film ebenso großen Reiz wie als Nebenwerk im Oeuvre von Peter Brook. Der drehte drei Jahre später noch die klassische "Herr der Fliegen"-Verfilmung, machte (und macht bis heute) dann aber keine Spielfilme mehr, sondern jenes multikulturelle Theater von großer Einfachheit, für das sein Name in den Lehr- und Geschichtsbüchern steht.
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