Wer das Land verlassen will, ist sowieso schon weg

UKRAINE Die Kluft zwischen den Menschen wird auch bei der Visavergabe deutlich. Die Reichen erhalten leicht Zutritt nach Europa. Dabei stammt ihr Geld oft aus kriminellen Quellen

VON OLENA POVOLIAIEVA

BERLIN taz | In deutschen Haltestellen stehen die Abfahrtzeiten von Bus und Bahn. Das wundert die Gäste aus der Ukraine immer wieder. Noch mehr überrascht sie, dass sich alle danach richten. Die Europäer hingegen wundern sich über die verblüfften Ukrainer. Deutsche oder Briten fragen dann voller Staunen: Ist denn die Ukraine nicht auch ein Teil Europas?

Momentan ist die Antwort: Nein. Das größte Problem für eine Annäherung auf allen Ebenen ist und bleibt die Visafrage. Sie wird für viele Ukrainer immer wieder zu einer Odyssee. Auch wenn die Bewohner der Hauptstadt Kiew es leichter als die Leute aus der Provinz haben, an ein Schengen-Visum zu kommen, ist die Prozedur auch für sie nicht angenehm. In der Ukraine wohnen über 40 Millionen Menschen. Viele von ihnen würden gern in die Europäische Union reisen und dort auch einiges Geld ausgeben.

EU-Diplomaten hatten versprochen, dass es von Jahr zu Jahr leichter werden würde, Visa für den Schengen-Raum zu bekommen. Doch Fakt ist: Für eine Einreise nach Deutschland wurde die Liste der vom Konsulat geforderten Dokumente sogar länger. Damit müssen die Ukrainer nun auslöffeln, was ihnen einige Spekulanten eingebrockt haben. Die Ukraine wurde vor einigen Jahren in einen Visa-Skandal verwickelt. Es kam heraus, dass sich rund um die deutsche Botschaft in Kiew ein Netz aus Geschäftemachern mit direktem Draht ins Konsulat etabliert hatte. Sie profitierten von der Reiselust ihrer Landsleute und verhalfen nebenher so manchem zwielichtigen Geschäftemacher zu einer Einreiseerlaubnis in die Europäische Union.

Ihor Todorov, Professor an der Nationalen Universität in Donetsk und Experte für Europäische Integration, ist der Auffassung, dass die EU mit der Ukraine zu streng sei. „Die Teilnahme der Ukraine an der Östlichen Partnerschaft der EU sowie alle ratifizierten Abkommen zwischen ihr und der Ukraine zur Visaerleichterung sind rein formaler Natur. Die Partnerschaft war und ist zumeist ein virtuelles Projekt. Sie kann einen Zusatznutzen für die gesamte ukrainische Euro-Integrationspolitik haben, aber kein Ersatz sein“, erklärt Todorov.

Für die ukrainische Politik stand die Integration in die EU während der letzten zwei Jahre nicht sehr weit oben auf der Agenda wichtiger Themen. Der Grund dafür ist die deutliche Orientierung des neuen Präsidenten Wiktor Janukowitsch nach Moskau. Mit seinem Machtantritt ist Europa recht schnell aus den Medien verschwunden – und damit aus dem Bewusstsein der durchschnittlichen Bevölkerung. In der Provinz verlief dieser Prozess noch schneller als in der Hauptstadt Kiew.

„Die Visaprozeduren sind immer schwieriger geworden“, sagt Viktoriya Ishchenko, die in der ostukrainischen Industriestadt Donetsk als Journalistin und Reiseführerin arbeitet. „Ich reise viel, und es dauert immer sehr lange, ein Visum zu erhalten. Es ist ermüdend. Ich bin sicher, dass es keine wirklichen Gründe gibt, die bestehende Praxis aufrechtzuerhalten.“ Nach letzten Erhebungen hätten 80 Prozent der Ukrainer ihr Land noch nie verlassen. Viktoriya Ishchenko ist sich sicher, dass es nicht zu einem Massenexodus kommen wird: „Das ist ein Mythos. Alle, die das Land verlassen wollen, sind bereits weg.“

Viele Ukrainer glauben, dass Bürokraten Schuld daran haben, dass es überhaupt noch Visa gibt. Allerdings scheinen die deutschen Hauptstädter keine Angst vor ihren östlichen Nachbarn zu haben. Eine kleine Straßenumfrage im Zentrum von Berlin ergab, dass viele Deutsche nichts über die Visaprobleme der Ukrainer wissen. Die meisten meinten, dass nichts Schlimmes passieren würde, falls die Grenzen eines Tages auch für Osteuropäer durchlässiger werden würden.

Dirk Naumann, ein Berliner Buchhändler sagt: „Die Mauern an den Grenzen sollten nicht höher als 30 Zentimeter sein, so dass auch Mädchen und Frauen in Kleidern sie leicht überspringen können.“

Andrey Gorokhov, ein in Berlin lebender russischer Journalist und Filmemacher, sagt: „Im 19. Jahrhundert sind deutsche und belgische Kolonialisten ohne Visum in den Kongo gelangt. Das heutige Europa schützt sich durch eine Visabarriere vor der Dritten Welt. Tatsächlich aber ist es eine Politik des Neokolonialismus.“

Kritisch betrachtet Gorokhov auch die Realität bei der Visavergabe: „Reiche Ukrainer, die meist ehemalige oder aktive Kriminelle sind, haben überhaupt kein Problem, nach Deutschland zu kommen. Für sie gibt es keine Barriere. Aber für die normalen Menschen in der Ukraine bleibt Deutschland meistens verschlossen. Und dies ist natürlich ein Problem.“

Wie dem auch sei: Es bleibt die Hoffnung, dass die Beziehungen zwischen den Menschen und der einfache gesunde Menschenverstand die Bürokraten und die Grenzen eines Tages überwinden werden.