175 Jahre Norddeutsche Mission: Eine bereinigte Bilanz
Die Norddeutsche Mission feiert ihr 175-jähriges Bestehen. Die selbst herausgegebene Festschrift zeichnet ein reichlich lückenhaftes Bild vom Wirken der Missionare in Afrika.
BREMEN taz | Dass Wilhelm Müllers Geschichte fehlt, ist schade: Es ist eine starke, eine erbauliche Geschichte. Denn Bruder Müller gehörte zu den Guten. Zu jenen, die dort, damals, 1900, in "Deutsch-Togoland", den tiefen Rassismus der Heimat überwanden, bei der Arbeit für die Norddeutsche Missionsgesellschaft (NMG). Die wurde 1836 in Hamburg von Kaufleuten und anderen Gläubigen gegründet, vor 175 Jahren also.
Das wird zur Zeit gefeiert, in Bremen natürlich, wohin die NMG vor 160 Jahren ihren Sitz verlegte. Aber eben auch in Ghana und Togo, also dem ehemaligen Missionsgebiet; in Leer, wo die Reformierten ihren Hauptsitz haben; im Lipperland und auch in Oldenburg.
Seit 1980 ist die NMG ein Gemeinschaftswerk der Église Évangélique Presbytérienne du Togo, der Evangelical Presbyterian Church of Ghana und der vier norddeutschen Landeskirchen. So etwas gibts nicht oft, und 2001 wurde auch die formelle Gleichberechtigung der Partner hergestellt. Der Etat liegt bei 1,1 Millionen Euro, operativ tätig ist die NMG aktuell in mehr als 100 eher säkularen Hilfsprojekten: Man baut Brunnen, betreibt Schulen und Krankenhäuser.
Das umfangreiche Festgottesdienst- und Vortragsprogramm zum Jubiläum der Norddeutschen Mission findet sich auf www.norddeutschemission.de. Besonders bemerkenswert:
Filmreihe vom 5.-11. Mai im Bremer Kino 46. Eröffnet wird sie mit einem Dokumentarfilm, 1929 gedreht vom damaligen Missions-Inspektor Gottfried Stoevesandt
Festschrift: Zeitgemäß. Das ist unsere Mission. 175 Jahre Norddeutsche Mission 1836-2011, 160 Seiten, 12,90 Euro
Rainer Alsheimer: Bilder erzählen Geschichten - eine Fotoanthropologie der Norddeutschen Mission in Westafrika, 356 Seiten, 15 Euro
Zugleich ist die NMG ein Relikt des 19. Jahrhunderts: Sie ist Teil der norddeutschen Handelsgeschichte. Für die Gründer spielte eine Rolle, dass religiöse Unterschiede den Warenverkehr hemmen. Auch nutzte der Bremer Kaufmann Johann Karl Vietor, NMG-Aktivist der ersten Stunde, die fromme Plattform, um Konflikte mit dem Hamburger Afrika-Konkurrenten Karl Wöhrmann auszutragen. Noch viel fragwürdiger wirkt, in der Rückschau, ihr ideelles Motiv, "den armen Heiden das lieb Evangelium" zu bringen. Mission heißt: Menschen von etwas zu überzeugen, für das es keine rationalen Argumente gibt, also vom eigenen Gottesglauben.
Und die NMG kennt den Klang ihres Namens. "Zeitgemäß - das ist unsere Mission" heißt da das zum Jubiläum erschienene Buch. Es wirkt in weiten Teilen eher wie eine Schutz- als eine Festschrift, die so böse Worte wie Spaltung, Sklaverei und Rassismus vermeidet. Und in der deshalb auch die traurige Anekdote vom Missionar Müller fehlen muss, der heiraten wollte - eine Frau, die er selbst getauft hatte. Eine Frau aus dem Volk der Ewe.
Dafür brauchte er die Genehmigung des Vorstands und von Missionsinspektor August Wilhelm Schreiber junior. Im Heimaturlaub Ende November 1900 schickte der Münchner Müller also einen Bittbrief nach Bremen, in dem er schildert, dass die Einheimischen seine Pläne begrüßten. Bloß die Missionars-Kollegen hielten sie für unschicklich. Da hat Inspektor Schreiber dem Hochzeiter aber gründlich den Kopf gewaschen, postwendend: "Br. Müller geschrieben, daß ich niemals meine Zustimmung zur Ehe eines Missionars mit einer Negerin geben werde", teilte er dem Vorstand mit, das "niemals" unterstrichen. Wessen Urteil denn bittschön schwerer wöge, "das der Missionare oder eines afrikanischen Kirchenältesten?", kritzelte er aufs Gesuch. "Schädlich" sei "die Sache", und "ein frommes deutsches Mädchen" würde Gott gewisslich zeigen.
Der Rassismus dieser Geschichte ist offenkundig. Aber immerhin meinte Müller ja, hoffen zu dürfen. Also muss er eine entsprechende Vorstellung von der NMG-Leitung gehabt haben: dass sie, anders als die große Mehrheit seiner Zeit, Schwarze als Menschen anerkennen könnte. Ein Irrtum, Müller gab auf, kündigte und blieb unverheiratet. Denn vorsorglich torpedierte Schreiber auch seine Bemühungen, fürs Auswärtige Amt "im Schutzgebiet Togo" Dienst zu tun. Müller wanderte 1901 aus, in die USA, wo er eine Pfarrstelle bekommen haben soll, in Texas, man weiß es nicht genau.
An Anekdoten mangelts der Festschrift nicht, wohl aber an Zweideutigem. Zwar analysiert der EPCG-Chef-Theologe Seth Agidi scharfsinnig die Dialektik des von den Missionaren begründeten Bildungssystems. Das habe alphabetisiert, die Weltsicht erweitert - und dabei doch auch das traditionelle Familien- und Solidarsystem erodiert. Wo es um die Gegenwart geht, überwiegen dann aber euphorische PraktikantInnen-Berichte und langweilige ReferentInnen-Beiträge im Worthülsen-Modus: "tiefe Frömmigkeit", "völliges Durchdrungensein", "starke Identifikation", "ungeheure Dankbarkeit". Amen. Und der historische Teil des Bandes hangelt sich entlang an Missionarslebensläufen und Bekehrungslegenden.
Geschichte durch Geschichten zu erzählen, das ist kein verkehrter Ansatz. Bloß dient offenbar jenes Lied der Kinder in Tado als Devise, das der löbliche Praktikant notiert hat: "Wasch, wasch, wasch …", heißt es. So bereinigt die Festschrift selbst jene unrühmlichen Stellen der Geschichte, wo die NMG einfach nur Pech hatte. Etwa bei der großen Geldsammlung von 1851: Deren Anlass sei das Ableben des ersten Afrika-Heimkehrers Lorenz Wolf gewesen. Das habe "neuen Eifer" entfacht: "Und so sammelten sie innerhalb von vier Monaten beträchtliche Geldsummen ein." Die Sammlung gabs, und sie war auch erfolgreich. Nur ihr Anlass, der war nicht so erhaben: Als das Bremer Missionsblatt damals vom "allerschwersten Schlag" berichtete, der die NMG getroffen habe, war nicht vom verschiedenen Wolf die Rede, sondern vom spurlos verschwundenen Hermann Haase. Der war Ältermann, also Schatzmeister - und mit der Kasse durchgebrannt.
Interessant wird die Kassenwartslappalie erst durch die Auslassung: So lässt sich der Erstmissionar besser verherrlichen, dessen Tod das Wunder der Geldvermehrung bewirkt habe. Derartige Zuschreibungen sind typisch für Heiligenerzählungen, und "Märtyrer des Glaubens" heißt auch das Kapitel über Wolf und seine drei Kollegen. Die krepierten 1847 kurz nach der Landung, Wolf hielt sich. Er behandelte sein Tropenfieber mit Schnaps, Arsen und Chinin, seinen Schlafmangel mit Laudanum, seinen Durchfall mit Opium. Visionen hatte er schon als Jugendlicher gehabt. Seine Fantasie erweiterte sich in Afrika um frauenfeindliche und rassistische Gemeinplätze. "Wenn ich Ihnen schreibe, dass hiesige Frauen Tag und Nacht mein Schlafzimmer umgeben haben, ja dass sie mit Gewalt in dasselbe gebrochen sind, um ihre schandbare Lust mit mir zu befriedigen und dass ich nur mit Gewalt und Gebet mich dieser Bestien erwehrt habe", teilt er 1849 dem norddeutschen Mutterhaus mit, "so lüge ich nicht". Das mag sein. Andererseits beeinflussen Rauschmittel stark die innere Wirklichkeit.
Solche Ambivalenzen lässt die Festschrift, wie gesagt, nicht zu, und selbstredend zitiert der EPC-Pastor Yaphet Ledo in seiner merkwürdig postkolonialen Wolf-Hagiografie dessen Briefe nicht. Die finden sich aber in Rainer Alsheimers jüngstem Buch, "Bilder erzählen Geschichten", es ist im Herbst erschienen, auch passend zum Jubiläum, und nennt sich "eine Fotoanthropologie der Norddeutschen Mission". Niemand, das steht fest, kennt die NMG-Geschichte besser als der Bremer Kulturwissenschaftler: Vor zehn Jahren hat er begonnen, deren Archivalien am örtlichen Staatsarchiv zu sichten, zu ordnen, auffindbar zu machen. Kritisch aufgearbeitet hat er sie auch. Das Forschungsprojekt hieß "Transkulturationen", fragt also nach den Bedingungen und Möglichkeiten, dem Scheitern, Gelingen und Erfolg der Begegnung unterschiedlicher Kulturen. Gesponsert von der Volkswagenstiftung - und der NMG: Anfangs war deren Leitung begeistert, die Zusammenarbeit eng. Das hat sich gelegt.
An der Festschrift hat Alsheimer nicht mitgearbeitet. Die Lust verloren? Kaum vorstellbar. Alsheimer versteht sich selbst "nach wie vor als Missionsfreund". Bloß die Gegenliebe scheint geschwunden: Sein Buch macht große Teile des fotografischen Archivbestands der NMG zugänglich, und es erklärt sie, unaufgeregt nüchtern, unerbittlich realistisch. Also schmerzhaft desillusionierend. Vor allem wo es um Sklaverei geht.
Denn ihre ersten Gläubigen haben die Missionare zusammengekauft: Mindestens 179 "Kindererwerbungen" sind dokumentiert. Fotos von ihnen wurden in die europäischen Partnergemeinden entsandt, sie erinnern an Katalogbilder. Der Vorgang ist erklärbar: Die Frommen handelten im besten Einverständnis mit der Hegelschen Doktrin, nach der zwar "das Wesen des Menschen die Freiheit" ist, bloß "der Neger" bei weitem kein Mensch - und die Sklaverei Mittel, durch das "Menschliches unter den Negern geweckt" werde. Die frommen Weißen sprachen deshalb von "Freikauf", ein Ausdruck, den die Festschrift konsequent benutzt.
Alsheimer nennt ihn einen Euphemismus. Statt emanzipatorisch zu wirken, führte "die Nachfrage" der frommen Männer Anfang der 1860er Jahre dazu, dass sich "im Umkreis der Missionsstationen ein Sklavenmarkt entwickelt" hat. Das begründen, mit Wucht, die Fotografien und mit Nachdruck die Berichte der geraubten, den Missionaren gegen Geld überlassenen Kinder, die schreiben lernten. Einer Missions-Festschrift, die solches nicht erwähnt, fehlt deutlich mehr als eine Anekdote.
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