Jeder Schnitt hat eine Botschaft

Auf einem Kongress in Berlin diskutieren Psychiater mit Schülern über ein wenig beachtetes Problem: selbstverletzendes Verhalten. Betroffen sind meist junge Mädchen. Fachleute: Rechtzeitige Therapie kann Jugendliche in zwei Jahren heilen

Von JAN PFAFF

Im Saal wird es still, als die Schülerin an das Mikrofon tritt. „Meine Freundin zerschneidet sich immer die Arme“, erzählt sie. „Ich weiß nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll.“ Die Schülerin will ihre Freundin nicht verlieren. Aber es belaste sie, dass diese sich immer wieder mit einem Messer selbst verletze.

Die zwei Psychiater auf dem Podium sind sich einig: Die Freundinnen müssten eine klare Absprache treffen, was passiere, wenn die Selbstverletzungen nicht aufhörten. Und falls dies nicht helfe, brauche die Freundin professionelle Hilfe von Therapeuten. „Das Ritzen kann auch zu einer Sucht werden“, sagt Jugendpsychiater Oliver Bilke. „Und du musst aufpassen, dass du dabei nicht mit deiner Geduld zu einer Helferin wirst.“

Selbstverletzendes Verhalten ist ein Jugendproblem, das bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Deshalb hat die Deutsche Psychiatrie-Gesellschaft 800 Berliner Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren zu einem Schülerkongress eingeladen, bei dem Teenagerprobleme diskutiert wurden. Auch Veranstaltungen zu Cannabiskonsum und Magersucht boten die Therapeuten an.

In der Runde zum Thema Selbstverletzung konnten rund 200 Schüler erfahren, was man tun kann, wenn die Freunde plötzlich mit Schnittwunden zur Schule kommen. Oder wo man Hilfe findet, wenn die eigenen Probleme übermächtig werden.

Genaue Zahlen gibt es nicht, aber Schätzungen gehen davon aus, dass jeder zehnte Schüler sich schon einmal selbst Schmerzen zugefügt hat. Der körperliche Schmerz erscheint vielen dann als verführerisch, weil er innere Spannungen zunächst überdeckt. Das Gefühl der Erleichterung ist aber nicht von Dauer, der Körper gewöhnt sich an den Schmerz. Daher muss die Dosis laufend gesteigert werden.

Mit 14 Jahren beginnen die meisten. „Aber nicht jeder, der sich mal schneidet, ist gleich krank“, sagt Oliver Bilke. Trotzdem müssten Freunde die ersten Anzeichen Ernst nehmen. Vor allem Mädchen seien anfällig. Sechsmal häufiger als Jungen verletzten Mädchen sich selbst, sagt Bilke: „Jungs neigen dazu, ihre negativen Gefühle nach außen zu wenden. Sie verletzen eher andere als sich selbst.“

Auf dem Kongress erzählten Oberstufenschüler mit nachgestellten Fotos, wie sich während der Pubertät ein allgemeines Unwohlsein bis zur psychischen Krankheit steigern kann: Auf den an die Wand projizierten Bildern sitzt ein Mädchen allein zu Hause auf dem Bett. Sie sagt am Telefon ihren Freundinnen ab, schmeißt ihre Lieblingsklamotten in den Mülleimer, zieht sich völlig zurück. Kontaktschwierigkeiten sind der erste Schritt, der zu selbstverletzendem Verhalten führen kann.

Die Gründe hierfür seien unterschiedlich, erläutern die Experten: „Ein geringes Selbstwertgefühl, ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper oder traumatische Erlebnisse wie Missbrauchserfahrungen können die Auslöser sein“, sagt Psychiater Bilke. Weil das Mädchen in der fiktiven Foto-Story keinen Gesprächspartner mehr findet, richtet sie ihre Wut und Traurigkeit gegen den eigenen Körper.

Dabei führen die Betroffenen nach außen oft ein normal erscheinendes Leben. „Weil Jugendliche sich aber Gleichaltrigen viel eher als Eltern und Lehrern anvertrauen, spielen die Freunde eine so wichtige Rolle“, sagt Psychiater Claas-Hinrich Lammers. „Je früher man eingreift, desto besser lässt es sich behandeln.“

Die Foto-Story der Schüler findet ein Happy End. Das Mädchen auf den Bildern akzeptiert, dass sie ihre Probleme nicht allein lösen kann. Sie geht zu einer Jugendberatungsstelle und bekommt professionelle Hilfe.

„Mit einer Therapie könnten die meisten Jugendlichen nach zwei Jahren geheilt werden“, sagt Lammers. Eine Verhaltenstherapie könne bereits nach wenigen Monaten erste Erfolge zeigen. „Die Patienten lernen dabei, den Akt der Selbstverletzung immer weiter hinauszuzögern“, erklärt Lammers. Dadurch bekämen sie mehr Selbstvertrauen. Und sie merkten schließlich, dass sie ihre Probleme auch anders lösen könnten.