„Rituale sind Widerstand“

VORTRAG Christoph Türcke, Philosoph aus Leipzig, erklärt den Sinn einer Kultur der Aufmerksamkeit

■ 63, ist Philosophie-Professor in Leipzig. Von ihm erschienen zuletzt die Bücher „Jesu Trauma. Psychoanalyse des Neuen Testaments“ und „Hyperaktiv – Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur“.

taz: Herr Türcke, Rituale stehen im Verdacht zu einer Kultur von gestern zu gehören.

Christoph Türcke: Ja, aber sie bekommen in der gegenwärtigen Aufmerksamkeits-Defizit-Kultur einen neuen Status, eine Aufgabe des Widerstands.

Auch kirchliche Rituale?

Mein Verständnis von Ritual erwächst aus der kritischen Theorie, nicht aus einer verblasenen Metaphysik. Rituale sind geronnene Wiederholungen. Heute müssen Kinder die Wiederholungsfähigkeit wieder erlernen, wenn ein stabiles Ich wachsen soll. Das geht nicht mit der Deregulierung im Kindergarten – jeder bekommt das Spielzeug, das er will – oder der Deregulierung des Unterrichts in der Grundschule mit dieser Flut an Arbeitsblättern, die die Kinder bearbeiten können, wann sie wollen. Ich plädiere für traditionelle Rituale – zum Beispiel das des Erzählens und des Aufführens. Wer etwas aufführen lernt, lernt sich aufführen.

Sie sind eigentlich Philosoph, nicht Pädagoge.

Die mentale Fähigkeit, bei etwas bleiben zu können, sich auf etwas gedanklich dauerhaft richten zu können, ist eine elementare menschliche Errungenschaft, die hart erarbeitet worden ist. Traumatischer Wiederholungszwang steht am Anfang menschlicher Kultur. Den will ich nicht zurück – aber die Wiederholungsfähigkeit ist verlierbar.

Die Zivilisationskritik hat immer schon die Beschleunigung und die visuelle Überreizung mit kulturkritischer Sorge begleitet – bei der Eisenbahn, dem Film, der Großstadt. Hat sich das Gehirn nicht als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen?

Eine gewisse Anpassungsfähigkeit ist da. Man merkt die Grenzen erst, wenn man den Bandscheibenvorfall hat.  INT.: KAWE

20 Uhr, Gästehaus der Uni Bremen,

Auf dem Teerhof 58