Kurz steht die Welt still

THEATER Das Stück „Judit“ in der Schaubühne erzählt die jüdische Geschichte von Verfolgung, Unterdrückung und Hoffnung

Das Wort wird ausgekostet, geschmeckt und gespuckt

VON LEA STREISAND

Judit war die Frau, die Holofernes den Kopf abgehackt hat, statt mit ihm zu schlafen. Mit seinem eigenen Schwert, während er besoffen seinen Rausch ausschlief. Die Szene ist Gegenstand zahlreicher Gemälde quer durch die Kunstgeschichte. Vor allem die Maler des Barocks schufen schaurig-schöne Bilder der männermordenden Witwe.

Es gibt auch ein „Buch Judit“, eine Textsammlung, die zu den Apokryphen gehört – jenen Texten, die nicht in den Bibelkanon aufgenommen wurden. Darin erzählt wird die Geschichte der frommen Witwe Judit, die nach der Belagerung ihrer Stadt durch den Tyrannen Holofernes aufbricht, um der Unterdrückung ein Ende zu machen. Holofernes hat den Israeliten nämlich das Wasser gekappt. Lothar Trolle hat diesen mythologischen Judit-Text mit chassidischen Märchen und aktuellen Versatzstücken zusammengefügt. Entstanden ist eine Textcollage von mitunter berückender Intensität.

Eine nasse Spur

Das Motiv Wasser hinterlässt gewissermaßen eine nasse Spur in der Inszenierung von Ewa Herzberg, die am Samstag in der Schaubude Premiere feierte. Es wird getrunken, verschüttet und zum rituellen Waschen benutzt. Und es teilte sich, als Moses die Israeliten aus Ägypten führte.

Drei schwarze Witwen sitzen auf der Bühne (Bühne und Kostüme: Marlen Melzow) auf Holzhockern. Neben jedem Hocker eine Papiertüte und eine Flasche Wasser. Katrin Heinrich, Ulrike Monecke und Magdalena Roth sprechen die Texte allein, zu zweit und im Chor. Zum Beispiel die Geschichte von dem Ziegenbock, der seine Hörner so lange wachsen ließ, bis sie sich schließlich in den Mond bohrten und ihn festhielten: „Wann kommt der Mä-ä-ä-ssias?“, fragt meckernd der Bock, gespielt von Ulrike Monecke.

Der Mond hat keine Ahnung, weshalb er die Frage an die Sterne weiterleitet. Die wissen es auch nicht und fragen die Milchstraße, die auch keine Ahnung hat. Kurz steht die ganze Welt still. Dann pickt der Ziegenbock drei Sterne vom dunklen Firmament und lässt sie auf dem Marktplatz vom Schtetl zerspringen. Deswegen glitzert der Asphalt heute dort, wo einmal Juden gelebt haben.

Erzählt wird jüdische Geschichte, eine Geschichte von Verfolgung, Unterdrückung und nie versiegender Hoffnung. Die Frage nach dem Wert des Wassers zieht die Frage nach der Stellung des Wüstenstaates Israel nach sich. Judit geht ja zu Holofernes, weil ihr Volk durstet.

Um aktuelle Nahostpolitik gehe es ihnen nicht, sagen Autor und Regisseurin bei der Premierenfeier. Viel wichtiger seien die Spuren jüdischer Geschichte im Alltag und in den Biografien jedes Einzelnen. Strukturiert wird die Inszenierung von Videosequenzen mit der S-Bahn, die am Theater in der Greifswalder Straße vorbeifährt. „Es sind dieselben Gleise wie damals“, sagt Herzberg, „und hinter vielen Mauern, an denen man vorbeifährt, haben Juden gewohnt.“

„Judit“ ist eine Collage aus Versatzstücken jüdischer Kulturgeschichte, aus Märchen, Liedern und Witzen. Vor allem ist es ein Stück über die Rezeption eines Themas, das so mit Bedeutung aufgeladen ist, dass man sich den Gegenständen nicht mehr unbefangen nähern kann.

Die Schaubude ist eigentlich eine Spielstätte für Puppentheater. In „Judit“ werden keine Dinge zum Leben erweckt, sondern Texte erforscht. Das gesprochene Wort spielt die Hauptrolle, es wird ausgekostet, geschmeckt und gespuckt. Wie das Wasser aus den Literflaschen, die am Ende des Stückes leer sind.