GUTEN RUTSCH
: Blitzeis

„Die haben nich jestreut!“, sagt Frau Thiele

„Na, Frau Thiele, wie ist die Lage?“, frage ich die nette alte Dame aus dem Parterre. Sie steht an der offenen Haustür und schaut unschlüssig auf die Straße hinaus. Paul und ich kommen grade die Treppe runter. „Belämmert ist die Lage“, sagt Frau Thiele, „die haben nich jestreut!“

Ich stelle mich neben sie. Der Gehweg vor uns sieht aus wie lackiert: „Ohgottogott!“, sage ich. „Na, ihr jungen Leute könnt euch ja noch auf den Beinen halten“, sagt Frau Thiele, „ich muss auf meine Tochter warten.“ – „Von wegen“, sage ich, „bei dem Wetter falle ich auch sofort um, deswegen hab ich ihn dabei.“ Ich zeige auf Paul, der noch nicht wirklich wach ist. Ich hab ihn vor einer halben Stunde aus dem Bett gezerrt, weil ich unglaublich viel zu erledigen habe: Anträge abgeben, seit Wochen überfällige Bücher zur Bibliothek bringen. Ich hab mich aus dem Bett gequält, alle Unterlagen zusammengesucht, geduscht, gefrühstückt und abgewaschen. Und als ich grade loswollte, da sagen sie im Radio, dass Blitzeis ausgebrochen ist. Man kann sich über das militaristische Vokabular beim Wetterbericht aufregen, aber bei Witterungen wie diesen finde ich die immanente Aggressivität der Begriffe äußerst angemessen.

„Scheiße!“, hab ich gesagt und Paul auf möglichst freundliche Art und Weise beigebracht, dass er seine gehbehinderte Freundin auf ihrer Rutschpartie durch die Stadt begleiten müsse. „Wozu“, hat er gesagt, „bei dem Wetter sind doch alle behindert. Da kann keiner mehr richtig laufen.“ Dann hat er sich umgedreht. „Das ist ein blödsinniges Argument“, habe ich erklärt. „Glatteis macht uns nämlich nicht alle behindert, sondern behinderter, Steigerung, verstehste? Wer nichts hat, humpelt, wer humpelt, kann nicht mehr alleine laufen usw.“

Als wir in der Straßenbahn sitzen, ist Paul wach geworden. Ich hab vor Stress Schweißausbrüche. „Das ging doch glatt“, sagt er. Guten Rutsch! LEA STREISAND