Fremder Leute Kinder

Ausweg aus der Verwahrlosung. Wie Erziehungsstellen Kindern helfen

„Anfangs hat meine Frau mit dem Jungen echt gekämpft“

AUS LANGENFELDGESA SCHÖLGENS

Was bewegt eine Familie, die Kinder anderer Eltern so aufzunehmen, als wären es die eigenen? Die Eheleute Bauer* aus Langenfeld haben darauf eine Antwort. „Ich kenne das aus meiner Jugend“, sagt Sabine Bauer, „meine Mutter hat lange Jahre Pflegekinder gehabt“. Bevor sie Ersatzmutter wurde, war Sabine Bauer selbstständig. „Als ich meinen Job verlor, habe ich nach einer neuen sinnvollen Aufgabe gesucht“, so die Erzieherin. Also wurden die Bauers Erziehungsstelle und gaben Kindern ein neues Zuhause.

Vor zwei Jahren kam Dirk, ein Jahr später Claas in die Familie. Die beiden Jungen sind heute neun und zehn Jahre alt. Wie alle Erziehungsstellen-Kinder waren sie schwer verhaltensauffällig, wurden vernachlässigt und konnten deswegen nicht mehr in ihrer eigenen Familie leben. Bei den Bauers bekommen sie nun die Sicherheit, die ihnen lange Zeit gefehlt hat.

„Alle unsere Kinder haben eine große Sehnsucht nach Familie, sie brauchen aber auch klare Grenzen und feste Strukturen“, sagt Petra Hollender, Erziehungsstellen-Leiterin bei Alpha Wuppertal. Dass eine erzieherische Ausbildung dabei hilfreich ist, darin ist sie sich mit den Bauers einig. In schwierigen Situationen könne man sich eher „rausziehen“ und professioneller an Probleme herangehen. „Man nimmt nicht alles so persönlich“, sagt Sabine Bauer. Auch ihr Mann kann nach 32 Jahren im Schuldienst auf genügend pädagogische Erfahrung zurückblicken. „Gut ist auch, dass wir mit unseren eigenen Kindern üben konnten“, meint Bernd Bauer.

Während die Eltern erzählen, kommt Dirk ins Zimmer und kuschelt sich auf „Papa“ Bernds Schoß. „Ich habe heute einen Test geschrieben und alle Fragen beantwortet“, sagt der Junge stolz. Bernd lobt ihn. Nach einer Weile fragt Dirk: „Wann gehe ich denn wieder zu Mutti?“ – „Sie besucht dich in vierzehn Tagen, und dann wollen wir die selbstgebackenen Plätzchen testen“, sagt Sabine Bauer.

Dirk geht auf eine normale Schule. „Er hat enorme Fortschritte gemacht“, meint Bernd Bauer. Vorher galt der Junge als Legastheniker, wäre fast auf einer Schule für Lernbehinderte gelandet. Inzwischen liest er ein bis zwei Bücher die Woche. Sabine Bauer schenkt noch Tee ein, während sie erzählt, wie oft sie dem Jungen vorgelesen, mit ihm geübt hat: „Die Zeit habe ich bei meinen eigenen Kindern nicht gehabt“.

Trotzdem hat die Familie nicht vergessen, wie schwierig besonders Claas anfangs war. „Schlagen, Spucken, Beißen und Zimmer auseinander nehmen war an der Tagesordnung“, sagt Bernd Bauer ernst: „Meine Frau hat mit dem Jungen echt gekämpft“. Bis zu anderthalb Stunden täglich musste Sabine Bauer Class festhalten, bis er sich beruhigte. „Immer wieder hieß es: Du bist nicht meine Mutter, du hast mir nichts zu sagen!“ Oft war sie am Ende ihrer Kräfte. Aber sie hat durchgehalten, nicht zuletzt dank der Unterstützung Petra Hollenders, die für die Pflegeeltern immer ansprechbar war.

Auch mit den anderen Erziehungsstellen gibt es Austausch, gemeinsame Ausflüge, Essen und Fortbildungen. Es sei schön, die Entwicklung der Kinder zu beobachten. „Wenn wir uns treffen, heißt es oft: ,Gott, hat der sich verändert, das ist ja ein ganz anderes Kind!‘“, sagt Bernd Bauer. Die Veränderungen sind sogar körperlich: „Alle Kinder wachsen in der neuen Familie“, so Petra Hollender. Sie bekämen eine gesündere Haut, hielten plötzlich die Schultern gerade, und legen an Gewicht zu. Kein Wunder, gab es doch zuvor Fastfood zu essen, wenn überhaupt etwas auf den Tisch kam.

Ausgerechnet dann, wenn Kinder sich eingewöhnt haben, beginnt meist die aufsässige Phase, es fallen freche Worte, das Essen wird verweigert. „Sie wollen dann Grenzen austesten nach dem Motto: ,Na, behaltet ihr mich, auch wenn ich so bin?‘“, sagt Hollender. Bauers Jüngster hat schon mehrmals seine Sachen gepackt, um abzuhauen,“ er musste sie aber hinterher selbst wieder einräumen in den Schrank“, sagt Sabine Bauer schmunzelnd.

Fest steht für das Paar: „Wir sind keine Konkurrenz zu den leiblichen Eltern“. Alle vier Wochen kommen die echten Mamas zu Besuch. Zum Glück bestehe zu beiden ein gutes Verhältnis. Sonst kämen die Kinder schnell in einen Konflikt, seien hin- und hergerissen. Ohne regen Kontakt würden die leiblichen Eltern idealisiert, nach dem Motto „die ist immer lieb zu mir“, weiß Petra Hollender.

Zwischendurch brauchen die Bauers aber auch mal Kurzurlaub von der Familie. Außer Claas und Dirk wohnen noch die beiden Großmütter und ein leiblicher Sohn mit Freundin im Haus – Ruhe herrsche da nie.“ Wenn die Kleinen groß sind, gehen wir in Pension“, scherzt der Familienvater. Man müsse auch loslassen können und die Kinder ins Leben schubsen, sagt seine Frau: Toll fände sie, wenn Dirk und Claas die Schule schafften, einen Beruf erlernten. Die Bauers sind für die kleinen Dinge im Leben dankbar. Gerührt waren sie, als Dirk anfangs zu seinem neuen Bruder sagte: „Ich weiß, dass du Heimweh hast, aber glaub mir: Hier geht es dir besser!“ Oder wie Claas‘ Großmutter bei den Bauers anrief und sich bedankte. „In solchen Momenten könnte man schon vor Freude losheulen“.

*Namen von der Redaktion geändert