Jessicas Eltern verurteilt, Problem bleibt

Das Hamburger Landgericht verurteilt Eltern zu lebenslanger Haft, weil sie ihre Tochter verhungern ließen. Der Fall lässt auch die CDU-Landesregierung schlecht aussehen: Denn der Senat knausert weiter mit Geld für die überlasteten Sozialdienste

Das Gericht: „Die Behörden sollten künftig genauer hinschauen“

AUS HAMBURG ELKE SPANNER

Es war Mord. Das Hamburger Landgericht hat die Eltern der verhungerten Jessica gestern zu lebenslanger Haft verurteilt. Aus „gefühls- und mitleidloser Gesinnung“ sowie aus Eigennutz hätten sie ihre Tochter jahrelang schwer vernachlässigt, bis sie am 1. März im Alter von sieben Jahren starb. Irgendwann sei Marlies Sch. und Burkhard M. bewusst geworden, dass „der Zug ins Verhängnis abgefahren ist“. Statt Hilfe zu holen, hätten sie in Jessicas Zimmer den Lichtschalter manipuliert und „auf einen tödlichen Stromschlag gehofft“.

Auch den Vater Burkhard M. nahm das Gericht voll in die Verantwortung. Dessen Anwältin hatte in ihrem Plädoyer behauptet, der 50-Jährige habe vom dramatischen Zustand seiner Tochter nichts gewusst. „Das überzeugt in keiner Weise“, befand das Gericht. „Jessica ist in einer kleinen Wohnung verhungert. Der Vater hat sie sehr wohl gesehen.“ Die Mutter habe Kinder „als Feinde“ erlebt. Um sich eigenen Freiraum zu verschaffen, habe sie Jessica in ihrem „verliesartigen“ Zimmer eingesperrt und hungern lassen.

Während das Landgericht sein Urteil über die Eltern von Jessica sprach, verhandelte nur wenige Meter weiter eine andere Kammer über einen ähnlichen Fall. Ein Stockwerk höher im Gerichtsgebäude müssen sich seit Anfang November Eltern verantworten, die ihre sechs Kinder so vernachlässigten, dass die zweijährige Michelle im Sommer 2004 an einer unbehandelten Mandelentzündung starb.

Dass die Verfahren zeitgleich stattfinden, ist weniger zufällig, als es zunächst scheint. In den vergangenen Wochen ist in Hamburg offenkundig geworden, dass die Todesfälle zwar dramatische Ausnahmen sind – nicht aber die Vernachlässigung von Kindern in der Hansestadt. Immer neue Fälle sorgten für Schlagzeilen, bis nicht mehr nur die jeweiligen Eltern, sondern auch die Behörden in Erklärungsnot gerieten. Im Fall von Michelle ermittelt die Staatsanwaltschaft auch gegen drei Mitarbeiter aus Behörden und von freien Trägern, die von den katastrophalen Zuständen in der Wohnung der Familie gewusst haben sollen.

Nach Jessicas Tod richtete die Hamburger Bürgerschaft einen „Sonderausschuss vernachlässigte Kinder“ ein. Der förderte zutage, dass die Zahl verwahrloster Kinder steigt. Der Kinder- und Jugendnotdienst betreute im vorigen Jahr 364 Kinder, 2003 waren es noch 251 gewesen. Die Zahl der registrierten körperlichen Misshandlungen stieg von 287 auf 301. Und Fachleute schätzen, dass auf jeden bekannt gewordenen Fall rund 50 Unentdeckte kommen.

An diesen Erkenntnissen kommt der Hamburger Senat nicht länger vorbei. Für ihn sind aber alle Maßnahmen eine Geldfrage. So verfasste die CDU-Regierung nach Jessicas Tod zunächst nur einzelne Dienstanweisungen: Akten über Kindeswohlgefährdung müssen die Jugendämter künftig zehn Jahre aufheben. Zudem dürfen sich Behördenmitarbeiter Zugang zur Wohnung einer Familie verschaffen, die ihre Kinder nicht zur Schule schickt – dass Jessica nie in einer Schule war, hatte nur zu einem Bußgeldverfahren gegen die Eltern geführt.

Die Opposition hingegen fordert eine finanzielle und personelle Aufstockung der „Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD)“. Deren Aufgabe ist es, Familien in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Mitarbeiter der ASD völlig überlastet sind. Stadtweit sind 20 Planstellen aus Kostengründen unbesetzt, allein im Bezirk Harburg standen im Mai 272 Familien auf der Warteliste.

Dennoch beharrte Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) lange darauf, die ASD sei gut genug ausgestattet. Inzwischen kündigte sie immerhin die Bildung einer „Task Force Kinderschutz“ an. Ab 1. Dezember wird eine telefonische Hotline geschaltet, alle Hinweise soll die Task Force aufarbeiten. Sollte es darüber hinaus „Engpässe“ geben, kündigte Schnieber-Jastram an, würden auch die Mittel „für einzelne ASD“ aufgestockt.

Ob die Behörden im Falle von Jessica versagt haben, vermochte das Landgericht gestern nicht zu beurteilen. Der Vorsitzende Richter aber erlaubte sich den Hinweis, dass es „im Interesse vernachlässigter Kinder ist, wenn die Behörden in Zukunft genauer hinschauen“.

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