Die Skeptiker des Boulevards

Österreicher sind autoritär und sehen sich als Opfer. Oliver Rathkolbs schöner Versuch, diese Paradoxie zu erklären

„Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt.“ Diesen Satz von Helmut Qualtinger hat Oliver Rathkolb seinem neuen Buch „Die paradoxe Republik“ vorangestellt. Dem renommiertesten Zeithistoriker Österreichs geht es darum, die Leser durch ebendieses Labyrinth zu führen – und so manches Klischee über Österreich zu beseitigen.

Die Bilder, in denen sich Österreich darstellte, haben in den vergangenen Jahren gewechselt: Vom „Bollwerk des Deutschtums im Osten“, über die „Insel der Seligen“ und die „neutrale Brücke zwischen den großen politischen Blöcken“ bis zum Vorbild im deutschen Bundestagswahlkampf – und zum Außenseiter in der EU.

In zehn Längsschnitten über zentrale Aspekte der politischen Kultur, Demokratie- und Wirtschaftsentwicklung der vergangenen 60 Jahre sucht Rathkolb nach Kontinuitäten, Widersprüchen und Paradoxa. Warum war der Mythos der Neutralität für Österreich identitätsbildend – und gleichzeitig die enge Bindung an den Westen immer Kern der Politik? Warum entwickelte sich eine Sonderform der kontrollierten Demokratie, in der viele Entscheidungen außerhalb des Parlaments fallen? Warum sind in Österreich fremdenfeindliche Ressentiments gegenüber den Nachbarstaaten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs immer noch ausgeprägt, obwohl Österreich einer der Hauptprofiteure der Ostöffnung ist?

Rathkolbs Antworten basieren stets auf der Grundthese: In Österreich ist ein latentes autoritäres Potenzial sichtbarer als in vergleichbaren Staaten. Es wird verstärkt durch das jahrzehntelange Festhalten an der Opferrolle Österreichs in der NS-Zeit. Erst der sozialdemokratische Bundeskanzler Franz Vranitzky begann in den 80er-Jahren, die Mittäterschaft Österreichs zu thematisieren – und durchbrach damit den jahrzehntelangen Schweigekonsens.

Diese latent autoritäre Grundstimmung und das Verdrängen der NS-Zeit, die auch den Aufstieg des Rechtsaußen-Politikers Jörg Haider ermöglicht hat, wird durch die einzigartige Mediensituation gefördert: „In Österreich dominiert in international nicht vergleichbarer Form durch die Markt- und Reichweitendominanz der Kronenzeitung der rechte Boulevard. Die politischen Konsequenzen liegen auf der Hand: Langfristig muss jede Partei ein Arrangement mit der Blattlinie der Kronenzeitung finden, die sich auf manchen Kommentatorseiten weit rechts der Mitte angesiedelt hat“, analysiert Rathkolb.

Der hochstilisierte verbale Widerstand, den Österreich einem EU-Beitritt der Türkei entgegensetzt, ist nur eines von vielen Beispielen für diese Entwicklung – und deren logische Folge die Tatsache, dass in keinem EU-Staat in der Bevölkerung die Ablehnung der Erweiterung der Union größer ist.

Österreich ist Europameister in der EU-Skepsis – was 2006, das Jahr der österreichischen EU-Präsidentschaft und der nationalen Wahlen, spannend werden lässt. Die Ursache für die weit verbreitete Ablehnung von „Brüssel“ sieht Rathkolb darin, dass sich mit dem EU-Beitritt 1995 viele liebgewordene Selbstbilder Österreichs nicht mehr aufrecht erhalten ließen – besonders das von der „Inselwirtschaft der Seligen“. In vielen Detailanalysen zeigt Rathkolb aber, dass diese verklärte Inselwirtschaft zwar zu jahrzehntelang sehr niedrigen Arbeitslosenzahlen führte, aber auch ihre Schattenseiten hatte: Die eigentümliche Ausprägung des Wohlfahrtsstaates, der auf soziale Staffelung wenig Rücksicht nimmt, etwa macht er dafür verantwortlich, dass in Österreich die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich und zwischen Männern und Frauen weit größer sind als im EU-Schnitt. Gerade die Nebenrolle, die Frauen in Österreichs Politik nach wie vor spielen, führt Rathkolb wieder auf die bestimmende Sozialpartnerschaft zurück: In Gewerkschaften, Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung dominieren nämlich noch männliche Rekrutierungsmuster, die in demokratisch offeneren Institutionen wie den Parteien zumindest verbal überdacht wurden.

Der Bogen, den Rathkolb von der kontrollierten Demokratie zur Wirtschaft schlägt, ist typisch für dieses Buch: In konzentrischen Kreisen, auf scheinbaren Umwegen und Nebengleisen, führt er durch das Labyrinth Österreich. Immer kritisch, gut lesbar – und meist erhellend.

EVA LINSINGER

Oliver Rathkolb: „Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005, 464 Seiten, 25,90 Euro