Im Zwischendeck

Wagnisse, viel versprechende Quereinstiege, Abstürze: eine Reise mit der jungen deutschsprachigen Literatur vom Norden in den tiefsten deutschen Süden und bis nach Österreich

von GERRIT BARTELS

Die junge deutschsprachige Literatur befindet sich im Moment in einer schwierig-verworrenen Situation. Daniel Kehlmann und Arno Geiger rangieren mit ihren jüngsten Romanen seit Wochen unter den ersten fünf der Bestsellerlisten, nicht zuletzt, weil sich für beide Bücher eine große Koalition aus Feuilleton, Elke Heidenreich, Frankfurter Buchmesse und Deutscher Buchpreisjury zusammenfand, um sie lobend und preisend dorthin zu hieven; es geht doch! Ein Ingo Schulze ist mit seinem neuen Roman „Neue Leben“ ein Selbstläufer, wenn nicht gar ein Weltstar; und dann gibt es doch ein regelmäßig wiederkehrendes Wehgeschrei, wenn in Klagenfurt oder in Berlin beim Open Mike gelesen wird: solides Handwerk, das schon, aber risikoarm, erfahrungsarm, ohne politische oder realistische Relevanz.

Nun gibt es in diesem Herbst eine Menge junger deutschsprachiger Literatur, die sich vor Jahren schon in Klagenfurt oder beim Open Mike präsentierte, mit unterschiedlichem Erfolg, die aber noch nicht das Bestsellerformat der Kehlmanns und Schulzes erreicht hat. Um die soll es im Folgenden gehen: um Bücher schon etwas älterer Debütanten und hoffnungsvoller Quereinsteiger, um Wagnisse und Abstürze, um dritte oder vierte Bücher von Autoren, die sich gerade etablieren. Und nicht zuletzt um die Bestätigung, dass die Situation der jungen deutschsprachigen Literatur eine schwierige und verworrene ist, das ihrer Interessantheit aber keinen Abbruch tut.

Die Welt (I)

Großartiger Titel: „Am Dienstag stürzen die Neubauten ein“ (Wallstein Verlag); und ein gutes Beispiel dafür, dass ein erster Preis beim Open Mike keine Erfolgsgarantie ist. 2002 war es, als Kai Weyandt den Berliner Lesewettbewerb gewann, und ganze drei Jahre hat es gedauert, bis er jetzt mit einem Erzählband debütieren konnte; einem Buchformat freilich, das die Verlage für Debüts wegen der fehlenden Gewinnerwartung nur ungern noch verwenden.

Das dürfte bei Weyandt nicht anders sein. Doch ist an seinen Erzählungen nichts auszusetzen, die sind allesamt auf den Punkt gebracht und in ihrer Überlagerung von Wirklichkeit und Bildermacht motivisch fein ausgearbeitet und miteinander verbunden. Weyandts Protagonisten haben Schwierigkeiten, beides zu trennen – sei es, dass sich bei einem die Liebe zu einer Frau zu einer Liebe zu ihren Handtaschen entwickelt, sei es, dass ein Pärchen nicht weiß, ob es die Liebe real erlebt oder nur aus Filmen nachspielt. Am schönsten ist die Titelgeschichte, mit der Weyandt seinerzeit den Open Mike gewann, nicht nur wegen des Titels. „Am Dienstag stürzen die Neubauten ein“ ist eine Geschichte über das Geschichtenerzählen, in ihr entwickelt sich wie bei den russischen Matrjoschkas eine Geschichte aus der nächsten, und dabei entfaltet jede ihre eigene schöne Wahrhaftigkeit.

Im Norden (I)

In der Regel ist es auf der Frankfurter Buchmesse so, aller Welthaltigkeit und allen Länderschwerpunkten zum Trotz, dass die Realität außen vor bleibt: hier die Messe, dort die Welt, heißt es fünf Oktobertage lang. Dieses Jahr meinte man auf der Messe kurzzeitig, einen Roman zur draußen vorherrschenden (Medien-)Realität zu haben, den Roman zur Vogelgrippe: „Der kurze Traum des Jakob Voss“ von Matthias Göritz (Berlin Verlag). Tatsächlich findet sich hier ein verwandtes Thema: Eine Geflügelfarm (Hühner, Enten, Puten) irgendwo in Niedersachsen oder Schleswig-Holstein ist Schauplatz des Geschehens, und schon bald werden die Tiere von einer rätselhaften Krankhaft befallen. Doch hat Göritz’ Roman nichts von dem Irrwitz, den man sich in einem Vogelgripperoman gut vorstellen könnte – etwa wer im Fall einer Pandemie in den Genuss des dann knapp werdenden Grippeschutzmittels Tamiflu kommt und was es darum für Verteilungskämpfe gibt.

Der kurze Traum des Jakob Voss besteht zum einen darin, mit der Geflügelfarm eine zweite Chance zu nutzen und dabei basisdemokratisch die Arbeiter mit an der Farm zu beteiligen. Erzählt wird das alles aus der Perspektive des pubertierenden Sohns von Jakob Voss, und viel mehr als ein Vogelgripperoman oder ein sozialromantischer Roman ist Göritz’ Roman zum anderen einer über eine Jugend auf dem Land in den Achtzigerjahren, mit allem, was dazugehört: erste Liebeleien, erste Kräftemessen mit älteren Konkurrenten, erste Irritationen über Eheprobleme der Eltern.

Das ist solide erzählt, hübsch einfühlsam und voller Lokalkolorit, hat aber seine Tiefpunkte, wenn Göritz die Achtzigerjahre akribisch mit typischen Requisiten und Musiktiteln heraufzubeschwören versucht. Dem gegenüber stehen die Höhepunkte des Romans: die Beschreibungen des Arbeitsalltags auf der Geflügelfarm, vom Aufmästen bis zum Schlachten. Da braucht es keine Vogelgrippenhysterie, da wird man allein vom Lesen glatt zum Vegetarier.

Im Norden (II)

Auf dem Buchrücken dieses neuen Jan-Costin-Wagner-Romans prangt das unvermeidliche Jubel-Zitat: „Jan Costin Wagner ist eine der erstaunlichsten jungen Literaturentdeckungen der neuesten Zeit.“ Das schrieb die Frankfurter Allgmeine Sonntagszeitung, als vor zwei Jahren Wagners damals zweiter Roman „Eismond“ erschien, und sorgte damit für Wirbel, der höchstens halbwegs gerechtfertigt schien: „Eismond“ ist ein lesbarer Roman, ein Krimi, der, wie jeder gute Krimi, mehr als nur eine Kriminalgeschichte erzählt. Mehr aber auch nicht.

Mit „Schattenriss“ (Eichborn Berlin) will Wagner anscheinend nicht mehr nur eine erstaunliche Entdeckung sein, sondern ein erstaunlicher Autor, der einen erstaunlich künstlerischen Roman verfasst hat. Das ist ihm missglückt. Im Mittelpunkt von „Schattenriss“ steht ein Mann, der seine Sehkraft eingebüßt hat und sich nun sein bisheriges Leben zurechterinnert: sein Leben als Familienvater, Werbeagenturbesitzer, Puffgänger und Sohn, dessen Eltern kurz nacheinander sterben.

Wagner schreibt ganz, ganz kurze Sätze, er arbeitet mit Wiederholungen und Vereinfachungen, und er versucht damit den ganz, ganz hohen Ton zu treffen und die ganz, ganz wahren Wahrheiten auszusprechen. Mehr als Prätention ist aber nicht; Prätention, die sich in den Niederungen von tastender Schülerprosa wiederfindet. Allein die „Farben in Gedanken“, die diesen Roman grundieren! Sie lassen einen im Verlauf immer drängender fragen, ob nicht gerade Blinde ein differenzierteres Farberleben haben, als Wagner es uns zu verkaufen sucht mit seinem ewig nur blauen Himmel, seiner ewig nur gelben Sonne und seinem ewig nur rotem Holzhaus.

„Schattenriss“ ist die Geschichte eines Mannes, die öde vor sich hin raunt, die intensiv sein soll, aber nur aufgepumpt und leer ist. Immerhin: Der Einfall mit dem Löwen, der durch den Wald läuft und dauernd andere Tiere trifft, die ihm Aufgaben stellen, eine Animation für einen Werbekunden, der ist toll. Diese Geschichte lässt sich wunderbar einem dreijährigen Kind erzählen. Danach aber steht dem auf die Hochliteratur abzielenden Jan Costin Wagner wohl kaum der Sinn.

Hamburg

An manchen Stellen weiß man, was Andrea Rothaug für Musik gehört oder wen sie vor Augen gehabt hat, als sie an ihrem Roman „Frierkind“ (Eichborn Verlag) schrieb. Plötzlich versucht da „ein Boy, der Tocotronic war, nicht mehr jugendlich zu sein“, und mehrmals ist die Rede davon, dass Samstage Selbstmord sind. Rothaug aber ist nicht Thees Uhlmann und hat kein Buch über Tocotronic geschrieben, sondern einen verzweigten Hamburger Szeneroman.

Wie es sich gehört, lebt dieser von seinen Schauplätzen und seinem Insiderwissen, das die 40-jährige Rothaug als angeblich einstige „Pressesprecherin der Tonträgerindustrie und Hamburger Kulturmanagerin“ (Klappentext) angehäuft hat. Vielmehr überzeugt, wie sie in „Frierkind“ einen Generationenkonflikt aufbereitet: zwischen dem jungen Max Tinker, der scheppert, verdruckst, pervers ist und auch nichts gegen die No Angels hat, und seiner immer auf Inszenierung bedachten Mutter, einer alternden Szenegröße und Kunstprofessorenwitwe, die wie ihr ebenfalls alternder Freundeskreis nicht vom juvenilen Szenegetue ablassen kann. Zwischen den beiden steht die junge Natalie, eine Art französische Angie Reed, in die Max sich verliebt, die aber von der Mutter gemanagt wird.

Vernachlässigt man, dass sich Rothaug sprachlich immer mal wieder verhebt mit das pralle Leben vorgaukelnden Expressionismen, Wortneuschöpfungen, Ellipsen und Satzfragmenten – irgendjemand muss ihr geflüstert haben, das sich Pop eins zu eins in Literatur übertragen lässt und dabei gleich ein „Sound“ entsteht –, so ist „Frierkind“ doch eine gelungene Studie darüber, wie schwer es ist, Punk- und Westbam-mäßig nicht aufhören zu können, immer so weiterzuleben. Und wie schwer es Kinder der Punk- und späteren Technogeneration haben, ein eigenständiges Dasein zwischen jugendlicher Revolte und übertriebenem Angepasstsein zu entwickeln.

München

Ein Mann vor dem finanziellen Abgrund; ein Mann namens Viggen, Münchener und stark auf die fünfzig zugehend; ein Mann, der zwar die Kraft hat, sich andere mögliche Leben für sich vorzustellen. Nur besteht deren Gemeinsamkeit darin, „daß sie auf einen phantastischen Ruin hinarbeiteten“. Und eine Frau, in Leipzig geboren, in Wroclaw zu Hause: Dora. Sie hasst es, verpflichtet zu sein, Kompromisse zu machen, langfristige Beziehungen einzugehen, und bezeichnet sich als „Ausnahmezustand“ – diese beiden komplizierten Personen lässt Thomas Palzer in seinem schön nachhaltigen Roman „Ruin“ (Blumenbar) aufeinander treffen.

Der Anlass: Der Tod von Viggens Vater, der auch Doras Vater ist. Hier die bundesrepublikanisch geprägte bürgerliche Familie, dort das uneheliche Kind einer Ost-West-Liebschaft in den frühen Sechzigerjahren. Und es steckt noch mehr in „Ruin“: der Tod eines nahen, geliebten Menschen und das damit unweigerlich einsetzende Sinnieren über Sinn und Unsinn des Lebens; eine eigentümliche Liebesgeschichte, deutsch-deutsche Vergangenheit und Gegenwart, osteuropäische Geschichte. Bei aller Stoffdichte ist „Ruin“ unaufdringlich erzählt, stellt aber von Beginn an eine starke, intensive Nähe zu den Protagonisten her. Was daran liegt, dass Palzers unablässig fließende Bewusstseinsprosa sich ihrer selbst so sicher ist, wie sie von den Erfordernissen der Gegenwart weiß.

Im Ländle

Nein, weiß Gott nicht: Martina Kieninger macht es uns nicht leicht, einen Zugang zu ihrem Roman „Die Leidensblume von Nattersheim“ (Liebeskind) zu finden. Denn es ist ein ziemliches sprachliches und inhaltliches Knäuel, das es da um die Metzgereifachverkäuferin Emma Lochmüller aus Nattersheim herum zu entwirren gilt. Nicht nur, dass Kieninger voller Lust vor sich hin fabuliert und nichts gegen Redundanzen und Aberrationen hat, sie legt mit ihrem Roman, mit dem sie vor fünf Jahren in Klagenfurt durchfiel, auch eine abgedrehte Mischung aus Religions- und Wissenschaftssatire vor.

Da reicht es nicht, dass Emma Lochmüller Stigmen und Visionen hat, etwa blutende Wundmale an Händen und Füßen, und sie sich seit zwei Jahrzehnten nur von Luft und vom Leib Jesu ernährt. Da reicht es auch nicht, dass diese Heilige immer mal wieder untersucht werden muss, von Pfarrern, Klostervorstehern, Bischofskommissionen, und einer der Prüfer sich schon darüber wundert, dass der ortsansässige Pfarrer das Nattersheimer Schwäbisch nach vielen Jahren Tätigkeit noch immer nicht versteht und nur Stuttgarter Honoratiorenschwäbisch spricht.

Nein, da muss es auch den russischen Schachspieler Tschitschitsch geben, dessen Hände ebenfalls regelmäßig bluten; dessen Förderer Teilhard Büchele, einem glücklosen Unternehmer, der Leichenköpfe tiefgefriert, um sie bald mit Hilfe der Biowissenschaften auf funktionstüchtige Körper zu setzen; seine stets über dem Strich agierende Cousine Regine, und noch ein paar schrille Figuren mehr.

Willkommen in der schwäbischen Provinz also, gegen die jede Großstadt ein Hort der Langeweile ist, wo aber Rückständigkeit und Fortschrittsgläubigkeit bizarrste Verbindungen eingehen und sich die in Stuttgart geborene und in Uruguay lebende Martina Kieninger bestens auskennt. Ihr Roman ist ein kleines Wunderwerk, für das man zwar viel Durchhaltevermögen und Sympathie mit den eigenartigen, manchmal aufdringlich eigenartigen Figuren aufbringen muss. Aber war es nicht so, dass man mal eine Saison keine bloß soliden Gebrauchstexte von 25- bis 30-jährigen Mädchen aus Leipzig lesen wollte?

Wien

Der bescheidene Witz von Norbert Müllers Roman „Feierabend“ (Residenz Verlag) zeigt sich schon an seinem Titel, der eine kleine Variation des Nachnamens seines Heldens darstellt: Robert Feyerabend. Von solchen Platt- und Überflüssigkeiten lebt Müllers gesamter Roman, der so eine Art Milieustudie aus der Welt der unermüdlich um Selbstverwirklichung kämpfenden Mittdreißiger sein soll: Robert arbeitet in einer Werbeagentur und sitzt in einer Selbsthilfegruppe für Suizidgefährdete, seine Freundin Nora ist Schriftstellerin und versucht erfolglos, ihre Manuskripte unterzubringen. Erst hat er Erfolg mit einer Werbekampagne, dann schafft auch sie es. Dann hat er einen Unfall und der Roman fängt noch einmal an: Robert ändert sein Leben.

Platter geht’s nicht, und schon während des ersten Teils fragt man sich: Was soll das? Warum hat Müller diesen Roman geschrieben? Einen Roman, der sich nicht entscheiden kann, ob er Satire oder Verarsche oder einfach nur lustig sein will, der seine Figuren lächerlich findet und lächerlich macht, und der von öde-witzig-pseudokryptischwichtigen Dialogen durchsetzt und in einem zwanghaft lockeren Ton gehalten ist.

Es gibt in der Literaturkritik die an sich unsympathische argumentative Figur der „Notwendigkeit“, die ein Text haben soll, die Notwendigkeit, die einen Autor veranlasst, genau diesen Text zu diesem Zeitpunkt zu schreiben. Hier muss man sie mal anwenden: „Feierabend“ geht jede Notwendigkeit durchweg ab. Wäre es nicht irgendwie auch eine Auszeichnung, müsste man sagen: schlechtester Roman des Jahres.

Die Welt (II)

Gemessen an den für junge Schriftsteller geltenden Verwertungszyklen von einem Buch pro Jahr hat sich der 34-jährige Steffen Kopetzky viel Zeit gelassen, über drei Jahre. Das mag daran liegen, dass er mit seinem feinen letzten Roman „La Grand Tour“ auch kommerziellen Erfolg hatte. Oder an einem Verlagswechsel. Oder auch an viel Einladungen von Goethe-Instituten in der ganzen Welt. Letzteres legen seine Erzählungen „Lost/Found“ (btb) nahe, deren Schauplätze Berlin, New York, Tanger, Nigeria oder Italien sind. Vielleicht muss man bei so einem Hin- und Hergejette einfach auf ein Thema wie „Lost/Found“ kommen, das Kopetzky mit Hingabe und einem hübschen Zirkelschluss in der letzten Geschichte verfolgt.

Einmal ist es eine Empfängnis, die nicht klappt, dafür aber die Einsicht über die Vielgestaltigkeit des Lebens, einmal eine Sprache, die verloren geht, in deren Gegenzug aber die Ehrlichkeit eines Mannes sich und seinem Leben gegenüber steht. Dann sind es ein paar Funde, die einem Hallodri den Tag interessant machen, dann eine aus einem Flugzeug abgeworfene Kunstbotschaft, die ein Leben in entscheidende Bahnen lenkt. Und zweimal wundert man sich, wie aus einem Jaguar ein Daimler wird und aus dem Daimler zuletzt wieder ein Jaguar.

Dass Kopetzky langen Erzählatem hat, hat er mit „Grand Tour“ bewiesen, mit „Lost/Found“ zeigt er sich auch als Kurzgeschichtenerzähler in guter Form – selbst wenn man bisweilen das Gefühl hat, dass der letzte Wille zur Straffheit fehlte, dass Kopetzky gern noch mehr Stoff angehäuft hätte, wäre da nicht der Plan eines Erzählbandes gewesen. So wirkt der Band wie ein Zwischenwerk, nicht wie eine Option für die Zukunft, worauf das fehlende Inhaltsverzeichnis hindeutet – schwer vorstellbar, dass der Verlag an ein Lesebändchen, nicht aber an ein Inhaltsverzeichnis gedacht hat.