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Schriftsteller Sergio Álvarez über Gewalt"Wir hören nicht auf zu lachen"

Der kolumbianische Schriftsteller Sergio Álvarez über seinen Roman "35 Tote", die Jagd der Kolumbianer nach intensiven Momenten und die Rolle der Gewalt in Südamerika.

Gedenkfeier für gefallene Soldaten in Kolumbien. Bild: dpa
Patricia Hecht
Interview von Patricia Hecht

taz: Herr Álvarez, Ihr Protagonist wächst in einer marxistischen Kommune auf, verfällt als Jugendlicher dem Konsum, wird Soldat, Auftragskiller und Drogenhändler, ohne Letzteres überhaupt bemerkt zu haben. Ist das nicht viel zu viel für ein einziges Leben?

Sergio Álvarez: Vielleicht muss man als Autor etwas dicker auftragen, aber das ist es, was den Leuten hier passiert. Man lernt jemanden an der nächsten Ecke kennen, der früher mal Bäcker war oder Metzger. Das Geschäft lief schlecht, also wurde er Straßendieb. Ein Militär wirbt ihn an, dort bekommt er Geld. Und noch mehr Geld bekommt er, wenn er Auftragskiller wird - schießen kann er dann ja. Die Menschen in Kolumbien leben immer noch unter schwierigen Umständen und handeln nicht, weil sie an das, was sie tun, glauben - sondern um bestimmte Notwendigkeiten oder Interessen zu befriedigen.

Warum hat Ihre Hauptfigur keinen Namen?

Was ihm passiert, passiert uns allen. Und zudem gibt es in diesem Land unzählige anonyme Tote. Die Opfer hier haben keine Namen, auch diejenigen Opfer nicht, die überleben.

Sie sehen ihn, der anderen Menschen selbst auch viel Schaden zufügt, als Opfer?

Ja. Aber Opfer sind oft nicht nur Opfer, sondern zugleich auch Täter. Im Roman gibt es eine Stelle, an der einige Bauern an einem Massaker beteiligt sind. Sie verdienen damit Geld, das sie brauchen - aber sie gehen auch einen Weg, der ihnen einfach erscheint. Das ist das große Problem in Kolumbien: Oft wird der einfachste Weg gegangen.

Sergio Álvarez

Der Autor: 45 Jahre alt, geboren in Bogotá, Kolumbien. Álvarez hat fünf Kinder, wohnt in Bogotá und Barcelona. Er war Gastwirt, studierte Philosophie, lebte im Ashram. An seinem dritten Roman "35 Tote" hat er fast zehn Jahre geschrieben.

Das Buch: "35 Tote" spielt in den Jahren von 1964 bis 1999, als in Kolumbien viele Guerillagruppen entstanden waren, Paramilitärs Teile des Landes kontrollierten und der Drogenkrieg eskalierte. Ein namenloser Protagonist treibt durch den Strudel der kolumbianischen Geschichte, bis er nach Spanien auswandern muss. Auf Deutsch ist das Buch eben bei Suhrkamp erschienen.

Neben der Hauptfigur erzählt der Roman in kleinen Episoden aus dem Leben unzähliger weiterer Figuren des Kolumbiens der letzten 35 Jahre.

Die Stimmen sind wie ein Panorama. Vielleicht muss man das erklären, weil es in Kolumbien etwas gibt, das ganz anders funktioniert als in Europa: Man geht irgendwohin und kennt niemanden, sagen wir, in eine Bar. Man unterhält sich mit jemandem und stellt fest: Der andere und ich, wir mögen beide Fußball. Also geht man am nächsten Tag zusammen ins Stadion. Und vielleicht trifft man sich danach nie wieder. So funktioniert auch der Roman: Es gibt diese eine große Geschichte, und es gibt viele kleine spontane Geschichten.

Viele Figuren, auch die Hauptfigur, geraten durch Zufall, Lust auf Sex, Langeweile oder Bequemlichkeit in die Guerilla, zu den Militärs oder auch wieder hinaus. Sie wählen nicht, die Dinge passieren ihnen einfach.

So sind wir. Aber die Leser sollen sich bewusst werden, dass es auch andere Optionen gibt. Wir müssen uns entscheiden und können nicht einfach abwarten, bis die Ereignisse uns überrollen.

Haben die Figuren denn eine Wahl?

Jeder hat die Wahl. Menschen können sich immer entscheiden, unter allen Umständen. Das heißt nicht, dass das einfach wäre. Aber ich glaube, dass dieses Land andere Möglichkeiten hat und immer hatte. Viele haben die Hoffnung darauf verloren. Das ist ein großer Fehler.

Auch die Hauptfigur hat den Glauben an die Politik verloren.

Für meine Hauptfigur existiert Politik nicht. Er weiß ja nicht einmal, wer wer ist und gerade welche Interessen vertritt. Es gibt scheinbare Guerilleros, bei denen sich später herausstellt, dass es eigentlich Paramilitärs sind.

Neben der Politik haben ihn seine Freunde betrogen und seine Frauen verlassen. Was lässt ihn weitermachen?

Etwas typisch Kolumbianisches an dieser Figur ist die Lust am Leben. Man geht in eine Bar, tanzt, verliebt sich. Die Menschen in Kolumbien haben noch immer wenig Chancen, sich ein stabiles Leben aufzubauen. Deswegen werden die kleinen, intensiven Momente wichtiger. Sie sind wie Drogen, die der Protagonist ja auch gut kennt: Ständig sind die Menschen auf der Suche nach intensiven Momenten.

Welche Rolle spielen dabei die Kultur, die Musik, der Tanz?

Eine sehr, sehr große. Die Kolumbianer mussten nun einmal feststellen, dass sie von der Politik nichts zu erwarten haben. Also flüchten sie sich in die Kultur. Da arbeitet einer die ganze Woche, vielleicht für einen Minister, von dem er weiß, er ist ein Mörder. Und in diesem Wissen wartet er aufs Wochenende, an dem er tanzen oder spazieren geht und Mädchen trifft. Die Menschen schaffen sich kleine Fluchten, die wie eine andere Welt für sie sind. Im Buch erzählt ein Militär in einem Gedicht, was passiert, wenn er tanzen geht. Der Typ ist die ganze Woche über ein Mörder, gegen Geld. Und dann geht er am Wochenende tanzen. So funktioniert das System.

Wie haben Sie recherchiert?

Zuerst habe ich gelesen, dann bin ich gereist. Ich war an allen möglichen Orten des Landes, bin hier ein paar Tage geblieben und dort ein paar Wochen. Ich wollte weniger die kolumbianische Geschichte erzählen als das, was sie mit den Menschen gemacht hat. Die Autobombe interessiert mich nicht - aber die Frau, die dadurch eine Hand verloren hat.

Im Roman spielt das Wort "Zukunft" eine große Rolle. Welche Perspektive haben Ihre Figuren auf die Zukunft?

Der Roman, das Land ist wie eine Achterbahn. Eine ganze Weile geht es nach oben, und die Menschen haben die Illusion, dass es immer so weitergeht. Und dann fallen sie. Es würde mich sehr freuen, wenn die Menschen in Kolumbien oben bleiben könnten. Aber wie die Dinge momentan sind, glaube ich das nicht.

Und trotzdem liest sich der Roman nicht nur schrecklich und tragisch. Den Figuren geht der Sinn für Humor nicht verloren.

So ist das in Kolumbien. Das Leben hier kann grausam sein, und trotzdem hören wir nicht auf, darüber zu lachen.

Das Gespräch mit Sergio Álvarez wurde in Bogotá, Kolumbien geführt.

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1 Kommentar

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  • VD
    valeria damiroxa

    Von lateinamerikanischen Autoren wie Sergio Alvarez, Jorge Amado, Gabriel Garcia Marquez - kann der Deutsche mehr von Lateinamerika "verstehen" - als durch die Deutschen welche als "freie Journalisten" oder "Korrespondenten" von Lateinamerika "berichten"... Was der Deutsch verstehen sollte: Der Lateinamerikaner - ob er weiss, braun, oder schwarz - "scheint" ist durch die 500 Jahre Vermischung meist multi-rassisch und das Produkt einer sozio-kulturellen Improvisation entstanden waehrend Jahrhunderten in "Wild-West-Neuland" Verhaeltnissen.