Kommentar Hungerstreikender Hazare: Indiens Kampf um Moral

Dass es die prosperierenden Mittelschichten in den Städten sind, die jetzt Hazare folgen, zeigt nur, wie moralisch dieser Aufstand ist. Er gilt der unmoralischen Kongresspartei.

Nur mit zwei längeren Unterbrechungen regiert die Kongresspartei seit der Unabhängigkeit Indiens das riesige Land. Erst vor zwei Jahren ging sie unter ihrer Parteiführerin Sonia Gandhi gestärkt aus den Parlamentswahlen hervor.

In ihren Reihen steht der junge Rahul Gandhi, Urenkel des Republikgründers Nehru, als Hoffnungsträger bereit, eines Tages die Macht des alternden Premiers Manmohan Singh zu übernehmen. Und trotzdem umgibt die Partei heute die Aura eines Ancien Régime. Sie wirkt alt und verbraucht. Ihr Wählervolk wirkt dagegen sehr jung und mutig.

Singh und seine Regierung voller gestandener Politiker und Intellektueller schauten in den letzten zwei Wochen tatenlos zu, wie sich ein Volksaufstand bislang unbekannten Ausmaßes im Land erhob. Sie glaubten, ein erfolgreiches Land zu regieren, und hatten damit nicht einmal unrecht. Indien ist dieser Tage neben China die weltweit größte Insel wirtschaftlicher Stabilität inmitten der globalen Finanzkrise. Auch geht es den meisten Indern trotz der nach wie vor schrecklichen Armut auf dem Land besser als vor zehn oder zwanzig Jahren.

Doch sind damit eben auch die Ansprüche vieler Wähler an die Politik gestiegen. Die Kongresspartei aber ist in all den Jahren die alte geblieben: elitär, rhetorisch genial, populistisch und korrupt. Sie vertraute ihrem eigenen Gandhi-Mythos, den Nehru klaute, als er seine Tochter Indira mit einem Gandhi verheiratete - seither steht an der Spitze der Partei fast immer der Name Gandhi.

Doch nun hat sich das Volk einen neuen, dem echten Gandhi im Vergleich zur Nehru-Sippe viel ähnlicheren Führer ausgesucht. Der Antikorruptionskämpfer Anna Hazare ist ein armer Mann, der sein Leben bisher in völliger Bescheidenheit fristete. Dass es die prosperierenden Mittelschichten in den Städten sind, die jetzt Hazare folgen, zeigt nur, wie moralisch dieser Aufstand ist. Er gilt einer unmoralischen Partei.

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Georg Blume wurde 1963 in Hannover geboren und ist gelernter Zimmermann. Er leistete seinen Zivildienst in einem jüdischen Kinderheim sowie in einem Zentrum für Friedensforschung in Paris. Danach blieb Georg Blume in Frankreich und wurde Korrespondent der taz. 1989 wurde er Tokio-Korrespondent der taz, ab 1992 auch für die Wochenzeitung DIE ZEIT. Von 1997 bis 2009 lebte er in Peking, wo er ebenfalls als Auslandskorrespondent für die ZEIT und die taz schrieb, seit August 2009 ist er für die beiden Zeitungen Korrespondent in Neu-Delhi. Bekannt geworden ist Georg Blume vor allem durch seine Reportagen über Umweltskandale und Menschenrechtsverletzungen in China. Für dieses Engagement erhielt er 2007 den Liberty Award, mit dem im Ausland tätige Journalisten für ihre couragierten Berichterstattungen gewürdigt werden. 2012 wurde er mit dem Medienethik-Award META der Hochschule der Medien in Stuttgart ausgezeichnet. Publikationen: „Chinesische Reise“, Wagenbach, Berlin 1998. „Modell China“, Wagenbach, Berlin 2002. „China ist kein Reich des Bösen“, Körber, Hamburg 2008.

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