Eine Stadt hinter Mauern

REZENSION Wolfgang Müllers Buch über die Westberliner Szene

Gerade der Mainstream verunglimpft Punk heute als das wahre Spießertum

„Jede Trennung stellt zugleich Verbindungen her“ – ein programmatischer Satz am Anfang der Einleitung von Wolfgang Müllers „Subkultur Westberlin 1979–1989“. Zwischen 1961 und 1989 war die Stadthälfte vom Territorium der DDR umschlossen. Müllers Buch über Westberlin als Stadt hinter Mauern sei zugleich eine „Geschichte ihrer Überwindung“. Dem Autor geht es um eine Beschreibung von Freiräumen. Auf fast 600 Seiten blättert der 55-jährige Künstler ein Westberlin zu Zeiten von Punk und Neuer Deutscher Welle und dem Postpunk der späten Achtziger auf. Der Absolvent der Berliner Hochschule der Künste und Mitbegründer der Band Die Tödliche Doris stellte auch Verbindungen nach Ostberlin und in Ostblockländer her. Ein großes Verdienst.

In seinem Buch durchkämmt Müller die Hinterlassenschaften einer Szene, die er als undogmatisch beschreibt: ihre Musik, Kunstwerke, Kneipen und ihr politisches Selbstverständnis, das sich vom Mainstream abhebt. Müllers eigene Erinnerungen sind um Interviewaussagen anderer ergänzt, um Fotos und Zeitungsausschnitte.

„Subkultur Westberlin“ ist keine kollektive Geschichte von unten. Eher fußt Müllers Erzählung auf seiner selektiven Wahrnehmung. Punk und New Wave waren auch vom Austausch mit dem angloamerikanischen Ausland geprägt. Leider kommt kaum einer der in den achtziger Jahren in Berlin lebenden ausländischen Musiker zu Wort. Was nicht in den queeren Blickwinkel Müllers passt, ist ihm suspekt. Das ist, speziell was die Geschichte von Punk in Westberlin angeht, zu einseitig. Denn zunächst ist die aus Wut und Zorn gespeiste Energie, wie sie im Punk der frühen Achtziger bei Teenagern zur Explosion führte, nicht allein mit Gender-Maßstäben zu klassifizieren. „Punk wurde zum Antriebsstoff eines deregulierten Kapitalismus,“ schreibt Müller, „der das in den siebziger Jahren noch verheißungsvolle Wort ‚Freizeit‘ längst durch ‚ständige Verfügbarkeit‘, ‚Flexibilisierung‘ und ‚komplette Ökonomisierung des Individuums‘ ersetzt hat.“

Ist das wirklich so? Wenn ja, warum schweigt Müller ausgerechnet über die radikale Westberliner Punkszene mit Bands wie Ätztussis, Betoncombo, Stromsperre oder Ixtoc-I, die sich gegen jede Vereinnahmung wehrte? Gerade der Mainstream verunglimpft Punk heute als das wahre Spießertum, was zuletzt im unerträglichen Revival des Schlagersängers Heino gipfelte. Immerhin: Der „wahre Heino“, ein Westberliner Punk, der als Heino-Doppelgänger in Erscheinung trat, findet bei Müller Erwähnung. JULIAN WEBER

■ Wolfgang Müller: „Subkultur Westberlin 1979–1989. Freizeit“, Philo Fine Arts, Hamburg 2013, 579 Seiten, 24 Euro