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Kolumne Das TuchVon Wiese zu Wiese hüpfen

Kübra Gümüsay
Kolumne
von Kübra Gümüsay

Auf der anderen Seite ist das Gras immer grüner – bis man endlich auch der anderen Seite ist.

E ine Freundin arbeitet in einem Hamburger Theater. Sie ist türkischer Herkunft, sieht aber mit ihren grünen Augen und den hellbraunen Haaren nicht besonders verdächtig aus, als eine türkische Theatergruppe das Theater besucht. Demonstrativ schwingt die Gruppe vor den Theatermitarbeitern ihre Bierflaschen, demonstrativ essen sie später Schweinefleisch - während die Hamburger Theaterleute vegetarisch bestellen. Und dann sagen die den Satz, den sie sagen müssen. Die Türken in Deutschland seien rückständig, nicht çada, also modern. In der Türkei sei das anders, da sei man zivilisiert und westlich.

Meine Freundin, die selber gerne Alkohol trinkt und manchmal auch verschiedene Fleischsorten probiert, schweigt wütend.

Es ist ein kalter Winter in Ankara, kurz vor 2005. Die Straßen der türkischen Hauptstadt sind mit Weihnachtsschmuck dekoriert, ebenso die Einkaufszentren. An einigen Straßenecken stehen Weihnachtsmänner und meine Cousine erzählt von den vielen Geschenken, die sie auf ihrer Privatschule austauschten. Die beiden muslimischen Feste haben sie nicht gefeiert. Das ist modern, das ist zivilisiert - çada, sagt man in der Türkei.

privat
KÜBRA GÜMÜSAY

kommt aus Hamburg, lebt derzeit in Kairo und betreibt das Blog Ein Fremdwörterbuch.

Am Neujahrstag steigen türkische Frauen mit blondierten Haaren, blauen Kontaktlinsen und Weihnachtsmützen auf dem Kopf aus den teuren Wagen, um sich ihren Weg in das Hotel zu bahnen - heute Nacht wird dort Weihnachten gefeiert. Am falschen Datum, am 31. 12. Im Fernsehen laufen Weihnachtssendungen, Promis laufen in Weihnachtskostümen über den Bildschirm. Sie singen Jingle Bells. Es ist tragikomisch.

Wie Kevin aus Berlin-Wedding

In Oxford besuche ich die Turkish Society, ein Zusammenkommen türkischer Studenten an der Universität. An einem Tisch stehen die Getränke. Drei Saftpackungen neben 15 Weinflaschen. Das ist nämlich çada. Keine andere Society, die ich in Oxford bis dahin besuchte, hatte so viele alkoholische Getränke auf ihrem Tisch stehen. Von vielen der Studenten weiß ich, dass sie praktizierende Muslime sind. Sie sagen das aber nicht öffentlich, das wäre in diesen türkischen Kreisen quasi gesellschaftlicher Selbstmord.

So kommt es, dass sich nach und nach Studenten mit einem weißen Plastikbecher in der Hand dem Tisch nähern, eine Saftpackung nach der anderen schütteln - leer - und dann beschließen, doch nicht durstig zu sein. Ich höre den beschämten Seufzer und auch die Worte, die sie herunterwürgen.

Ich weiß nicht, wer hier wem etwas beweisen möchte. Ich weiß nur, dass das nichts anders ist als der Kevin aus Berlin-Wedding, der sich ein Nike-Zeichen in die Haare rasiert. Nichts anders als die selbstgebastelten Adidas-Schuhe, die ich in einem Museum über die "afrikanische Kultur" entdeckte. Nichts anders als die Chinesinnen, die sich die Lider straffen lassen, oder die Schwarzen, die sich die Haare mit Chemikalien glätten. Nichts anders als die Japanerinnen, die sich eine geraden Nasenrücken operieren lassen, oder die Inderinnen, die sich die Haut bleichen.

Wenn das çada ist, bin ich gern altbacken, rückständig und von gestern.

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Kübra Gümüsay
Jahrgang 1988. Autorin des Bestsellers "Sprache und Sein" (Hanser Berlin, 2020). Bis 2013 Kolumnistin der Taz. Schreibt über Sprache, Diskurskultur, Feminismus und Antirassismus.
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21 Kommentare

 / 
  • S
    Steppenwolf

    Nebenbei, Frau Gümüsay:

     

    Sie meinten wohl "çağdaş" - nicht "çada"!

     

    Saygilar,

    Steppenwolf

  • Z
    Özgür

    Wieso muss man als Türkin eigentlich ein Kopftuch tragen, um von der taz wahrgenommen zu werden une eine eigene Kolumne zu bekommen?

     

    Wieso darf man nicht ein stinknormaler Mensch sein, der so dämlich aussieht wie Ihr selbst?

     

    Wieso dürfen wir Migranten nicht intelligenter sein als Ihr Durchschnittstazler?

     

    Muss ich als Türke erst einen Eurer beliebten "Ehrenmorde" begehen, damit Ihr Typen wieder was zu schreiben habt?

  • GA
    Güney A.

    Finde es wirklich krass, dass Sie meinen Kommentar unterdrückt haben. Sehr bedenklich, dass Sie sich bei deutlich vorgetragener Kritik bereits zur Zensur befugt fühlen. Da sind mir die toleranteren Glaubensbrüder aus dem Thalia-Theater und aus Oxford um einiges lieber.

  • H
    heidi

    @von Christentum:Sie müssen Lehre und Praxis unterscheiden. Von der christl. Lehre haben Sie anscheinend keinerlei Ahnung.

    Ist aber keine Religionsblog hier.

  • H
    heidi

    Es ist immer traurig, wenn Menschen nicht dazu stehen können, was sie sind (Hautfarbe, Aussehen) - oder zu dem, was sie glauben/meinen/denken.

     

    Das kommt in der Türkei bestimmt so häufig vor wie in anderen Ländern. Ist m.E. keineswegs ein türkisches Einzelproblem.

     

    Ich bekomme jedoch den Sinn des Artikels nicht ganz mit: Weder haben wir Leser die Autorin in irgend einer Weise beschimpft oder angegriffen oder verachtet - so dass sie sich nicht wehren müsste.

     

    Wehren Sie sich? Und wenn ja, wogegen?

    Sie geniessen doch Meinungsfreiheit bei uns im Westen - oder nicht?

     

    Und ihre Landsleute im Osten nicht?

     

    Und wenn doch, was ist dann das Problem - über ein allgemeingültiges soziales Problem - Minderwertigkeitsgefühle - hinaus ?

     

    Leider sprechen Sie nicht die Gründe an -

    betreiben keine Ursachenforschung - es hängt halt alles in der Luft - ist irgendwie ein bisschen lyrisch, ein bisschen traurig - gehört aber doch nicht in eine Zeitung!

  • ZZ
    zwischen zwei Welten...

    Sehnsüchtig habe ich deine Kolumne erwartet und wurde mal wieder nicht enttäuscht. Du sprichst mir mal wieder aus der Seeele. Bleib weiter so und lass dich nicht durch die Kommentare unterkriegen.

  • C
    Christentum

    @Ancasin

     

    Im Christentum sind Scheidung und Sex vor der Ehe verboten und die Unterordnung der Frau geboten?

    Das ist schlicht falsch.

    Die vier Evangelien sagen fast nichts über Sex und Ehe oder das Geschlechterverhältnis. Die Apostelbriefe schon eher und die verschiedenen Kirchen natürlich erst recht. Nur sagen sie je nach Ausrichtung und zeitlichem Kontext völlig unterschiedliches. Sowohl die römisch-katholischen Katholiken, wie etwa die rheinischen Protestanten treffen zu diesen Themen praktisch nie auch nur ähnliche Aussagen.

    Es muß also heißen: "einige (!) christliche Gruppen ...".

    Ich kenne eine Menge evangelische Christen, die Sex vor, während und nach der Ehe ganz gleichermaßen großartig finden. Ich könnte Ihnen sogar einen schwulen Küster mit Patchworkfamilie anschleppen.

  • M
    MBFC

    All' die PI-ler, die hier wieder 'kommentieren' haben (natürlich) den Text falsch verstanden. Frau Gümüsay spricht sich nicht gegen Alk und Schwein aus, sondern nur gegen das "sich etwas beweisen müssen". Tatsächlich ist der beschriebene übertriebene Alkoholkonsum so ähnlich wie die übertriebene Rauchfeindschaft bei gerade entwöhnten Nikotinsüchtigen oder der überzogene Haß auf Fleischesser bei frisch konvertierten Veganern.

  • HS
    Hans Stoffel

    Wenn Alkohol- und Schweinefleischkonsum tatsächlich Zeichen für "westlich" und "zivilisiert" sein sollen scheint die Gefahr das Untergangs der christlich-abendländischen Zivilisation tatsächlich real zu sein - wenn auch aus ganz anderen Gründen als vielfach behauptet.

     

    Es sind jedoch hier im "Abendland" gerade die hochgradig gebildeten und zivilisierten Menschen, die auch ohne religiöse Motive Alkohol und Schweinefleisch sehr zurückhaltend oder garnicht konsumieren. Darunter durchaus auch Menschen, die tatsächlich das Schwein vermeiden, aber andere Fleischsorten essen.

     

    Es ist wohl das Dilemma der Türkei seit Atatürk, das man zwar westliche Modernität übernommen hat, nicht aber westliche Zivilisation - und gleichzeitig die eigene, seit vielen Jahrhunderten gelebte Zivilisation über Bord geworfen hat. Aber ich bin zuversichtlich, das die Menschen in der Türkei es schaffen werden, auf Grundlage der eigenen, wiederentdeckten und neu belebten Zivilisation die westliche Zivilisation (und nicht nur die "Modernität") aufzunehmen und zu integrieren.

     

    Es grüßt Euch: Stoffel

  • B
    BiBo

    Das Bleichen der Haut hat in Indien weniger was damit zu tun, dass es modern ist, sondern das jetzt die Möglichkeiten dazu da sind. Technisch wie Ökonomisch. Der Grund aber ist uralt. Weiße Haut gilt als Ideal, gerade die Brahmein Kaste zeichnet sich durch eine helle Haut aus. Insofern ist die helle Haut dort nicht en vogue sondern schon immer ein Zeichen des gesellschaftlichen Stellenwertes...

  • E
    enya

    Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen.

     

    Wenn Inder/innen ihre Haut bleichen, dann zeigt das wie weit weiße "Normen" und Rassismen verinnerlicht wurden. Das macht mich wütend.

     

    Schweinefleisch und Alkohol dagegen, sind religiöse Gebote. Hier ist jedem frei gestellt ob er/sie sich daran halten will oder nicht. Und darüber hat niemand, auch keine Frau Gümüsay zu urteilen. Wenn es Frau Gümüsay verunsichert, dass sich manche nicht an diese Gebote halten möchten, dann ist das ihr Problem. Aber sicherlich kein Thema für diese Kolumne.

  • S
    suswe

    Alkoholkonsum, Pornos und Bleich/Bloniercreme haben tatsächlich mit Freiheit nicht so wahnsinnig viel zu tun. Das wussten schon die Feministinnen vor 40 Jahren.

    Emanzipation wurde nur gerne von interessierter Seite gern damit in Verbindung gebracht.

    Wozu wohl?

  • A
    Ancasin

    1. Heißt das Wort nicht "çada" sondern "çağdaş" was soviel bedeutet wie zeitgemäß.

     

    2. Ist der Artikel extrem einseitig. Wenn ein Muslim Schweinefleisch isst, dann kann er das machen, weil er das Verbot als nicht mehr zeitgemäß empfindet. Im Christentum ist die Scheidung, der Sex vor der Ehe verboten oder die Unterordnung der Frau (JA auch im Christentum gibt es das) geboten. Gott sein Dank hat die hiesige Gesellschaft derartige einschränkende Normen überwunden. Und die muslimische insbesondere die türkische Gesellschaft überwindet diese auch. Dieses Verhalten hat nichts damit zu tun dass man unter einem Minderwetigkeitskomplex leidet sondern dass man zeitgemäß ist. Wenn dies demonstrativ passiert, dann nur um der Welt zu zeigen, dass die Muslime (oder Türken) nicht im ersten Jahrtausend stecken geblieben sind. Mit einem Minderwertigkeitskomplex wie es die Autorin darstellen will hat das nichts zu tun.

     

    Wird Zeit das die Autorin auch mal Ihre Grenzen in Frage stellt.

  • KS
    kleiner Spinner

    Bier und Zigaretten? Die Insignien der Dumpfbackenkultur als Ausweis von Fortschrittlichkeit?

     

    Die spinnen, die Türken!

  • I
    IJoe

    Andere Menschen leben anders als Frau Gümüsay. Scheint sie nur schwer zu ertragen. Also: tolerant sein; das ist doch immer ihr Lamento.

  • A
    Anna

    echt guter Artikel

     

    Weder Religionslosigkeit/Atheismus noch für Glauben noch für praktizierte Religion muss ich irgendwer schämen oder rechtfertigen oder sich ins Hinterzimmer verkriechen.

    Ein atheistischer oder christlicher Antialkoholiker ist modern, ein muslimischer ein Fanatiker oder es ist Bigotterie

    Das gleiche Phänomen gibt es auch in anderem Zusammenhang. Ein Hausmann ist modern und fortschrittlich, eine Hausfrau aber erzkonservativ oder untergeordnet

  • AY
    Andi Ypsilon

    @EA

     

    "Ich kriege auch mittlerweile nen Hals, wenn gefragt wird, ob meine Abwendung vom Alkohol religiöse Gründe hat."

     

    Wie kann man wegen dieser Frage "nen Hals" kriegen? Warum ist diese Frage so schlimm?

  • M
    Moderner

    "...bin ich gern altbacken, rückständig und von gestern."

     

    - Ja das bist du. Und genau DAS versuchen dir so viele Kommentatoren zu sagen, immer nach Kübra´s Märchen aus 1001 Nacht. Schön das du es endlich merkst.

  • J
    Judith

    "Von vielen der Studenten weiß ich, dass sie praktizierende Muslime sind. Sie sagen das aber nicht öffentlich, das wäre in diesen türkischen Kreisen quasi gesellschaftlicher Selbstmord."

     

    Naja, an deutschen Universitäten ist die Selbstbezeichnung als "gläubiger Christ" auch nicht unbedingt die beste Methode, um sich beliebt zu machen.

     

    Außerdem: was heißt "in diesen türkischen Kreisen". Hört sich für mich nach türkischen links-Intellektuellen an. Die, die ich an der Uni und während des Auslandsstudiums kennen gelernt habe, waren zwar in der Tat auf Religion (jeglicher Coleur) nicht so gut zu sprechen, im Übrigen aber sehr weltoffen, nett und intelligent. Ich persönlich ziehe "diese türkischen Kreise" den Ihrigen vor.

  • S
    schnief!

    Jaja, der pöse, pöse Westen. Wären wir doch endlich alle Moslems. Mir kommen gleich die Tränen (wie bei jedem Ihrer Artikel).

     

    Immerhin - endlich mal eine realistische Selbsteinschätzung:

     

    "Wenn das çada ist, bin ich gern altbacken, rückständig und von gestern."

     

    Aber warum muss ich diesen Schmonsens in nerviger Regelmäßigkeit ausgerechnet in der taz lesen (die ob ihrer Verwestlichung gescholtenen Theaterleute kann man in der Türkei wohl getrost dem linken politischen Spektrum zurechnen)?

     

    Wenn der Islam eine "Junge Union" hätte, diese Dame wäre sicherlich Mitglied.

  • E
    E.A.

    Sehr interessanter Artikel,

     

    Ich kriege auch mittlerweile nen Hals, wenn gefragt wird, ob meine Abwendung vom Alkohol religiöse Gründe hat. Anfangs hab ich mich noch dafür geschämt, hab mich nicht Party-Gruppen angeschlossen, die bei jemanden Zuhause vor der Party "vorglühen". Aber solche Worte wie Deine verhelfen mir, damit etwas offener und selbstbewusster umzugehen. Danke :-)