Tanz um die verlorene Insel

Das Skulpturenmuseum in Marl bringt in der Ausstellung „Körper - Leib - Raum“ zeitgenössischen Tanz und Skulptur zusammen. Viel Neues erfährt man nicht, dafür sieht man einige grandiose Werke

VON KÄTHE BRANDT

Die vier verhüllten Gestalten gehen schnell, aber mit unerschöpflichem Gleichmut über die Diagonale eines quadratischen Grundrisses. Sie sind deutlich als menschliche Gestalten zu erkennen, aber sie scheinen emotionslos und stur allein dem abstrakten Schema einer unerbittlichen Choreographie zu folgen. Von Zeit zu Zeit verschwinden sie, einer nach dem andern, tauchen bald wieder auf. Samuel Becketts Fernsehstücke „Quadrat 1 und 2“, die 1981 vom Süddeutschen Rundfunk produziert wurden, erzählen mit minimalsten Mitteln nicht nur von der Ziel- und Bedeutungslosigkeit menschlichen Strebens, sondern auch von dem Phänomen aufgeladener Räumlichkeit. Bewegung verändert, strukturiert und psychologisiert den Raum. Film und Raumskulptur sind ein Ereignis.

Auch jetzt noch 24 Jahre später im Skulpturenmuseums in Marl, wo man sich das ambitionierten Ziel gesetzt hat, gattungsübergreifend die künstlerischen Tendenzen nachzuzeichnen, die zur Auflösung der Skulptur und ihrer Verflüchtigung im Raum führen. Im Untertitel heißt es: „Der Raum im zeitgenössischen Tanz und in der zeitgenössischen Plastik“. Letztlich aber handelt es sich um eine kleine Skulpturenausstellung mit einem Schwerpunkt auf den Medien Video und Film. Und das reicht absolut aus, um das Thema anzureißen, wenn auch die niedrigen Ausstellungsräume im traurigen Untergeschoss des Glaskastens etwas deprimierend wirken und keineswegs dazu angetan sind, irgendeine Befreiung zu feiern. Doch sie sollen bald erweitert und umgebaut werden, wie Museumsdirektor Uwe Rüth hoffnungsvoll erzählt.

Die wundervoll spröde Performance, die der Bildhauer Günther Uecker 1972 in Essen aufführte, trägt noch in der auf die materiellen Relikte beschränkten musealen Präsentation und Dokumentation etwas von ihrer ursprünglichen Kraft in sich. Der schwarze Raum, in dem der schwarzgekleidete Künstler mit geschwärztem Gesicht auf einem schwarzen Stuhl an einem schwarzen Tisch sitzt, verwandelt sich unter den Augen des Publikums in einen gänzlich weißen Raum, in dem zuletzt der ebenfalls nun geweißelte Künstler auf einem weißen Stuhl an einem weißen Tisch Platz nimmt. Pinsel und Farbe sind sein Handwerkszeug, ein einsamer Nagel ragt aus der Tischplatte. Rauminstallationen und Performances haben seit den 1960er Jahren den Raum selbst zu einen wesentlichen Teil des Kunstwerks erklärt. Entsprechend hat der moderne Tanz die Leere, das Intervall, den „spannungstragenden Zwischenraum“ für sich entdeckt. Mitunter sind die Gattungsgrenzen fließend.

Es sind weniger die mimetisch direkt auf den Tanz bezogenen plastischen Arbeiten der sparsam bestückten Schau als die konzeptuellen Werke, die dazu beitragen, Bewegung im Raum, ihre Motive und Konsequenzen als spannungsvoll zu erleben. Die poetischste und verführerischste Arbeit der Ausstellung stammt wohl von Rebecca Horn: In einer flachen gläsernen Vitrine liegt ein kleines Vogelnest mit zwei Eiern. Der verblasste Text auf der Rückwand erzählt die Geschichte der in Westafrika beheimateten Vögel, die sich einmal jährlich in einem großen Schwarm auf den weiten Weg über den Atlantik machen. Irgendwo über der großen Wasserwüste beginnen die Vögel zu kreisen, einen seltsamen Tanz in der Luft aufzuführen, der für manche von ihnen hier endet. In unbestimmter Vorzeit hatte es an dieser Stelle offenbar eine Insel gegeben, die ihren Vorfahren Rast- oder Zielpunkt war. Auch das kollektive Gedächtnis scheint sich also zu vererben und die Vögel Jahr für Jahr daran zu erinnern, was einmal war. Sie tanzen um die verlorene Insel.

1. Teil bis 15.01.2006 2. Teil vom 22.01.-12.03.2006Infos: 02365-992257