Anke Domaske über gesunden Stoff aus Wegwerf-Milch: "Die Möglichkeiten sind fast unendlich"
Anke Domaske hat aus Kasein eine chemikalienfreie Faser entwickelt, die Leiden lindern und biologisch abgebaut werden kann. Ihren Rohstoff gewinnt sie aus Milch, die zur Entsorgung bestimmt ist: Im Sommer startet sie in Hannover mit der industriellen Produktion.
taz: Frau Domaske, Stoff aus Milch zu machen, finden manche schlimm.
Anke Domaske: Ist es aber nicht.
Na, aber was soll denn gut daran sein, wenn Sie wertvolle Bio-Milch zu Kleidern verarbeiten?
Das tun wir ja gar nicht! Unser Rohstoff ist gesundtechnisches Kasein, so heißt das. Kasein ist das Haupt-Protein der Milch, …
Ja eben: Um ein Kilo Kasein zu gewinnen, brauche ich fast 30 Liter Milch.
Aber unser Kasein wird ja aus Milch gewonnen, die als Abfall gilt, weil sie nicht mehr für Lebensmittel benutzt werden darf. Die würde sonst einfach nur weggekippt.
Weil die Kühe krank waren?
Es gibt ganz unterschiedliche Beispiele: Da ist zum Einen das Zentrifugat, das bei der Käseherstellung abfällt und nicht weiter verwendet werden darf. Oder es kommt irgendetwas beim Transport dazwischen: etwa jetzt im Winter. Da kann es vorkommen, dass der Milchwagen nicht zum Bauern durchkommt, weil es geschneit hat oder die Straße glatt ist. Fünf Minuten zu spät - und die müssen 10.000 Liter Milch wegkippen. Die ist zwar eigentlich noch in Ordnung - aber die Milchverordnung ist in Deutschland so streng, dass die nicht mehr als Lebensmittel gehandelt werden darf.
28, Biologin mit Diplom der Uni Göttingen, betreibt seit neun Jahren in Hannover das Modelabel "Mademoiselle Chi Chi" - mit prominenter Kundschaft von Matthew McConaughey (Hollywood) bis Barbara Schöneberger (nicht "Wetten, dass…?").
Bloß: Sie wollen ja Ihre Qmilch-Faser jetzt industriell produzieren. Da können Sie sich doch nicht von solchen Zufällen abhängig machen?
Sie meinen, dass uns der Rohstoff ausgehen könnte? Das Problem werden wir sicher nicht haben: Fast 20 Prozent der Milchproduktion in Deutschland darf nicht für Lebensmittel verwendet werden.
Wie bitte? 20 Prozent?!
Ja. Das ist tragisch. Da reden wir über ein paar hunderttausend Tonnen im Jahr.
Na, eher über ein paar Millionen Tonnen …
… und ich spreche ja nur von der deutschen Milchproduktion. So viel Kasein kann jedenfalls gar nicht, wie üblich, zu Klebstoff oder Farbe oder Kosmetika und Tabletten verarbeitet werden. Und auch wir wären schon mit 560 Tonnen wirtschaftlich.
Wie kommen Sie denn an die Milch: Der Molkerei-Transporter ruft Sie ja wohl nicht an, wenn er irgendwo stecken geblieben ist - oder doch?
Nein, wir haben natürlich Verträge mit Molkereien. Da machen wir unsere Vorgaben, also: dass die Tierhaltung artgerecht sein muss, Bio-Anbau und so weiter.
Es klingt aber immer noch fremd, sich die Flüssigkeit Milch als Faser vorzustellen?
Das Kasein ist doch keine Flüssigkeit. Das verstehen viele nicht. Wenn Sie sich Milch anschauen, dann schwimmt unten die Molke und oben drauf so weiße Flocken. Das ist das Kasein. Wenn man das abschöpft, hat man den Quark - und der wird getrocknet. Dann bekommt man das Eiweiß-Pulver, das man auch von Bodybuildern kennt, von den Eiweiß-Shakes. Das kommt dann in eine Maschine, einen Extruder, in dem es wieder mit Wasser vermengt wird.
Die Qmilch-Faser hat Domaske in Kooperation mit dem Faserinstitut Bremen (Fibre) entwickelt, erste Kleidung aus dem neuen Material gibt es ab Februar im online-shop www.mcc-style.com.
Der Rohstoff Kasein wird seit der Steinzeit technisch genutzt, so als Bindemittel für Farben in der Höhlenmalerei, als Möbelleim im Alten Ägypten (Neues Reich, 18. Dynastie) und Mörtel im Imperium Romanum. Heute findet er zudem Verwendung in der Medikamenten-Herstellung, von Kosmetika.
Technisches Kasein wird gewonnen aus den zwischen fünf und sieben Millionen Tonnen Kuhmilch, die in Deutschland aufgrund der hohen Verbraucherschutzstandards nicht als Konsummilch im Sinne von § 2 (5) der Milch-Verordnung gelten dürfen.
Die Ökobilanz der Faser ist im Vergleich auch mit klassischen Naturfasern außerordentlich gut: So werden für ein Kilo Baumwolle durchschnittlich 12.000 Liter Wasser verbraucht, für Bio-Baumwolle noch 7.000 Liter. Für ein Kilo der Kaseinfaser reichen knapp zwei Liter - etwa 92 Liter, wenn man den Wasserverbrauch für die Milchproduktion einrechnet. Zusätzliches Färbereiwasser fält nicht an.
Der CO2-Ausstoß liegt mit 1.500 Gramm CO2-Equivalent pro Kilo auf ähnlichem Niveau wie Tencel oder Bio-Baumwolle.
Mit wie viel Wasser?
Wir brauchen maximal zwei Liter, um dieses Pulver anzurühren …
… auf welche Menge Pulver?
Das verrate ich nicht. Das genaue Mischungsverhältnis gehört zum Rezept - das muss geheim bleiben.
Verstehe. Das wird also verknetet …
Ja, wie beim Kuchenbacken - oder vielleicht eher wie im Fleischwolf, denn am Ende hat man so eine Platte mit vielen Löchern: 1.000-Loch ist zum Beispiel ein bekannter Standard. Das ist die Spinndüse. Da wird die Masse durchgedrückt - und dann bekommt man die Faser.
Klingt einfach.
Ist es auch, vom Prinzip her. Es ist sehr energieeffizient: Wir haben kurze Lieferwege …
… klar: Milch gibts hier rund um Hannover reichlich.
Genau. Wir fahren die Maschine mit geringen Temperaturen, also deutlich unter 100 Grad. Und die Prozessdauer ist sehr kurz.
Das heißt?
Momentan schaffen wir gut zwei Kilo pro Stunde, weil wir nur eine kleine Maschine haben. Das müssen wir allmählich hochskalieren, auf 70 Kilo, um eine Prozesssicherheit zu bekommen.
Und das ist kurz?
Absolut. Im Vergleich zu anderen Herstellungsverfahren ist das kurz, beispielsweise auch zu Viskose.
Wo ja auch immer giftige Nebenprodukte entstehen, Schwefelwasser- und -kohlenstoff. Wie ist das bei Ihnen?
Wir haben keine Abfallprodukte: Wir benutzen auch keinerlei Chemikalien, sondern nur Wasser, Kasein und andere Naturprodukte.
Und am Ende ist die Faser kompostierbar?
Ja, wie alle Naturfasern. Sie vereint sozusagen die Vorteile von einer Naturfaser und einer Industriefaser: Wir können alles machen. Wir können die auch im Prozess färben, ohne zusätzliches Wasser, das ja beim Färben von Wolle oder Baumwolle anfällt. Und wir können die Faser den Kundenwünschen anpassen: Wenn ich eine sternförmige Spinndüse wähle, wird sie zum Beispiel rau.
Das heißt: Sie können sie modellieren?
Genau. Die Möglichkeiten sind fast unendlich. Matratzenhersteller finden das zum Beispiel toll, wenn die Faser so einen Bausch-Effekt hat. Bei herkömmlichen Naturfasern würde das einen eigenen Prozess erfordern. Die muss ich nehmen wie sie sind - und auf die Bedürfnisse anpassen. Dafür gibt es eine Extra-Maschine, man bräuchte neues Wasser und wieder Energie. Das kann ich bei uns alles in dieser einen Stunde abdecken, und ohne zusätzliches Wasser.
Wie reagieren denn die Leute, wenn sie hören, ihre neue Bluse ist aus Milchfaser?
Das ist ganz lustig: Die meisten riechen erst einmal dran - und stellen dann fest, dass es nicht riecht. Manche wollen auch probieren, die Faser zu essen.
Man wird nicht krank davon.
Nein, man wird nicht krank davon. Ich habe sie auch selber schon probiert. Sie schmeckt allerdings nicht so toll.
Müsste man noch nachwürzen?
Ja, wenigstens etwas Zucker oder Salz draufstreuen. Aber auch dann wirds, glaube ich, kein Geschmackserlebnis. Also - ich würde es lieber anziehen.
Dass Milch schön macht, vor allem die Haut, das ist ja ein Klassiker: Ist das wichtig für die Vermarktung?
Nein, mit der Vermarktung hat das nichts zu tun. Das war eher der Ausgangspunkt: Dass Milch, etwa der Quarkwickel von der Oma, heilsame Wirkung hat, gehört ja zu einem traditionellen Wissen, das wir zum Großteil vergessen haben, oder nicht mehr nutzen. Ich glaube, das ist ein grundsätzliches Problem, dass wir generell nicht mehr auf das zurückgreifen, was die Natur uns bietet, sondern erst einmal auf synthetische Arzneimittel, ohne darüber nachzudenken. Denn es stimmt ja: Kasein - oder der Quark - enthält 18 verschiedene Aminosäuren. Jede wirkt anders, beispielsweise wundheilend oder entzündungshemmend. Normalerweise werden die den Medikamenten oder Lebensmitteln extra zugesetzt.
Und das hat Sie auf den Gedanken gebracht, eine Faser zu entwickeln?
Mein persönlicher Anlass war, dass mein Stiefvater vor drei Jahren an Krebs erkrankt ist, an einer schweren Form, eine Alters-Leukämie: Sein gesamtes Blut musste ausgetauscht werden. Und danach musste er in einem sterilen Raum leben: Er hat auf alles reagiert, Umwelt, Textilien - alles, was chemisch behandelt ist. Das war ein wirkliches Problem. Und da entstand die Idee, dass die Lösung eine Naturfaser ganz frei von Chemikalien sein müsste.
Das wäre aber nicht jedem eingefallen. Wie sind Sie darauf gekommen?
Im Grunde müsste ich jetzt meinen ganzen Lebenslauf erzählen. Meine Urgroßmutter war Hutmacherin und Modedesignerin, und die ganze Familie hat immer viel genäht. Ich selbst komme ja aus der Ecke Halle-Leipzig, also aus dem Osten.
Was hat das damit zu tun?
Ganz einfach: Wenn man mal etwas besonderes zum Anziehen haben wollte, dann musste man sich das selber nähen. Und dann habe ich angefangen mit Sticken und Schneidern in jungen Jahren, alles was kreativ war.
Und dann haben Sie Biologie studiert?
Naturwissenschaften - das war immer mein zweites Interesse. Mit zehn Jahren war Robert Koch mein großes Vorbild.
Die meisten Zehnjährigen kennen den gar nicht.
Ich fand das irgendwie spannend: mit Bakterien und so. Und die Vorstellung, Menschen mit Forschung helfen zu können.
Also: Mikrobiologie haben Sie studiert, und nebenher haben Sie das Modelabel "Mademoiselle Chi Chi" eröffnet?
Das war noch vor dem Studium. Da war ich 19 Jahre alt und gerade aus Japan zurückgekommen. Da war ich nach dem Abi gewesen, und in Tokio hatte ich etwas Neues kennen gelernt, das waren Tusch-Zeichnungen aus den 50er-Jahren. Da dachte ich: Das könnte ein neuer Trend werden. Das wollte ich ausprobieren.
Das heißt, Sie haben die ganze Zeit neben dem Studium Ihr Label weiterbetrieben?
Ja. Ich habe das so durchgezogen. Und es hat Gott sei Dank beides funktioniert. Jetzt hilft mir natürlich diese doppelte Erfahrung: Vor zwei Jahren, als ich fertig mit dem Studium war, wollte ich mich dann aufs Mode-Design konzentrieren. Da fingen auch schon die Hollywoodgrößen an, meine Sachen zu tragen.
Und dann haben Sie doch wieder beides unter einen Hut gebracht?
Ich habe dann von Milchfasern erfahren.
Wie, ich dachte, Sie haben die erfunden?
Die gibt es seit 1930. Damals war das eine richtige Trendfaser. Die ist dann allerdings durch Polyester verdrängt worden. Das schien mir zu dem zu passen, was ich suchte.
Aber?
Ich habe mich damit beschäftigt - und die Defizite festgestellt: Diese Chinafaser besteht nur zu 25 Prozent aus Kasein, zu 75 Prozent aus Acrylnitril, ist also stark erdölbasiert, der Herstellungsprozess ist extrem ressourcen-intensiv: Man braucht 60 Stunden, um sie zu produzieren.
Das wäre ja ein Grund gewesen, sie fallen zu lassen.
Ich fand aber, es müsste möglich sein, aus einem Naturstoff wie Milch auch eine naturbelassene Faser zu entwickeln, die natürlich wasserbeständig sein muss.
Das wäre nicht gut, wenn sich das Kasein-T-Shirt beim ersten Regenguss auflöst.
Absolut: Das ist der Knackpunkt, weshalb letztlich immer wieder zur Chemie gegriffen werden musste.
Und? Ist das geheim, wie das geht?
Nein, gar nicht. Das ist ganz einfach zu erklären: Die Moleküle vernetzen sich auf eine bestimmte Art und Weise. Wenn ich eine hohe Längsvernetzung habe, ist die Verbindung wasserbeständig - hat aber nicht ausreichend Fließfähigkeit. Und wenn ich eine hohe Quervernetzung habe, ist es fließfähig - aber nicht wasserbeständig.
Und der Trick?
Besteht darin, genau die richtige Mischung hinzubekommen, dass sich die Moleküle auf die richtige Art vernetzen.
Und das steuern Sie über Wasser- und Wärmezufuhr?
Ja, genau. Und wie gesagt - wir haben nicht nur Kasein. Wir haben auch andere Rohstoffe. Aber nur Natur.
Und das ergibt die ultimative Faser, mit der Sie Neurodermitis und Wunden heilen?
Ich würde nie behaupten, dass sie die Neurodermitis heilen kann. Das kann sie nicht. Was wir wissen ist, dass sie antibakteriell ist und glatt. Sie reizt die Haut also nicht zusätzlich. Das ist für die Betroffenen schon ein Fortschritt. Sie scheint außerdem einen positiven Einfluss auf die Wundheilung zu haben. Das weisen wir gerade nach, mit Aufnahmen von einer Hyper-Spektralkamera: Die Ergebnisse bekomme ich im Januar. Ich würde aber nie von der ultimativen Faser sprechen.
Warum denn nicht?
Jede Faser hat ihre Stärken und Schwächen, jede hat ihre Berechtigung - und wir können uns auch gar nicht leisten, leichtfertig auf eine zu verzichten. Es fehlen ja Fasern.
Wie jetzt?
Die sind alle ausverkauft. Auf dem Markt fehlen eine Million Tonnen Baumwollfasern. Als sich das abzeichnete, sind alle auf Viskose umgestiegen: Jetzt fehlen fünf Millionen Tonnen Viskose, bis 2030 sollen es elf Millionen Tonnen sein. Es gibt weltweit eine riesige Textillücke. Dieses Defizit kann einfach nicht gedeckt werden. Wir müssen uns einfach nach Alternativen umschauen - und warum dann nicht ein Abfallprodukt nehmen, das nur weggeschüttet würde? Das ist eine Ressource. Die wird einfach vergeudet. Ich finde, wir müssen sie nutzen. Aus anderen Ländern bin ich deshalb auch schon angeschrieben worden, zum Beispiel aus Brasilien: Da geht es vor allem um Ziegenmilch, die weggekippt wird. Und die suchen da verzweifelt nach einer Lösung.
Und denen können Sie helfen?
Ich bin nicht sicher, ob das mit Ziegenmilch auch funktioniert.
Warum?
Kuhmilch hat ein strukturell anderes Protein als Ziegenmilch.
Das klingt, als würden Sie am liebsten weiterforschen?
Das interessiert mich schon. Patentrechtlich haben wir das vorsorglich erst einmal alles geschützt. Wir hatten sogar schon Anfragen wegen Kamelmilch.
Da wären Sie hier aber echt am falschen Standort.
Klar, das ginge nur in Arabien - wo die Anfrage ja auch herkam.
Gab es auch Anfragen, das Patent zu verkaufen?
Ja, die gabs.
Aber das geben Sie nicht her?
Nach dem Motto: Du kannst es ja verkaufen, dann bist du reich? So denke ich nicht. So sollte man auch nicht denken, finde ich. Mein primäres Ziel war: Das Produkt muss auf den Markt.
Und dafür haben Sie jetzt die mühselige Arbeit an der Backe, eine Produktion aufzubauen, Kunden zu akquirieren …
Damit gibts keine Probleme: Da haben sich schon von sich aus 90 gemeldet
Also: Großkunden?
Auch, und mittelständische Unternehmen, kleine Labels - querbeet. Die Herausforderung ist eher, die Struktur aufzubauen: Wir müssen ja Leute einstellen, mindestens elf am Anfang, und dann hätten wir die Maschine nicht ausgelastet.
Die steht schon?
Nein, da sind die Lieferzeiten so lang: Wir haben jetzt vielleicht die Chance, eine gebrauchte zu bekommen. Aber es dauert mindestens bis Mitte 2012.
Macht Ihnen das nicht Angst, zu wissen - in einem halben Jahr läuft die Produktion, dann haben Sie nie mehr Zeit fürs Sticken oder sonst was?
Ach, die hatte ich schon vorher nicht mehr. Das macht mir keine Angst. Ich finde es spannend - und faszinierend, obwohl es total technisch ist. Wir hatten jetzt erst einen Großversuch mit unserem Maschinenhersteller. Und ich bin da wie ein kleines Kind an Weihnachten durch die Hallen gegeistert, komplett auf Wolke sieben: Ich liebe mein Produkt. Und wenn ich mit meiner Erfindung Menschen helfen kann - das ist doch toll.
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