Angriff ist die beste Verteidigung

FUSSBALLNACHWUCHS Mit den Juniorinnen auf dem Platz: Union Berlin und Türkiyemspor machen vor, wie gut sich Frauenfußball in den Klubs entwickeln kann. Leider sind sie Ausnahmen. Vor allem im Breitensport ist Fußball weiterhin nur was für Jungs

■ Letztes Jahr waren in Berlin mehr als 9.500 Frauen in Fußballvereinen gemeldet, 2009 waren es noch 6.200. Bei den Mädchen bis 16 Jahren waren es knapp 4.400, 2009 noch 3.700. Der Mitgliederzuwachs hielt nach dem WM-Jahr 2011 zunächst an: Von 2011 auf 2012 stieg die Zahl der Frauen in den Clubs um 22 Prozent, die der Mädchen um 14 Prozent. Knapp 11 Prozent aller Mitglieder sind in Berlin weiblich. Aktiv sind allerdings nur 2.900 Frauen – viele sind demnach passive Mitglieder. In Berlin gibt es 105 Frauen- und 126 Mädchenteams – im Vergleich zu rund 1.200 Männer- und 1.800 Juniorenteams. Dabei gibt es acht reine Frauen- und Mädchenfußballvereine. (jut)

VON JENS UTHOFF

Julie Illmann trabt locker durchs Mittelfeld, der Ball klebt der 15-Jährigen am Fuß. Die Spielerin mit der Nummer 10 lässt leichtfüßig ein, zwei Gegnerinnen aussteigen. „Julie, zieh ab“, schreien ihre Mannschaftskameradinnen. Was sie tut, aus 30 Metern. Der Ball klatscht an den Pfosten.

Es ist ein bitterkalter Samstagmorgen in Köpenick, kurz nach 11 Uhr. Das U17-Team von Union Berlin hat ein Testspiel gegen Slavia Prag. Der Kunstrasen, auf dem 22 Mädchen auf und ab rennen, ist leicht vereist, zwischen den Schneeresten wird gegrätscht, geackert, gefightet. Im Mittelfeld prallen zwei Akteurinnen mit Wucht zusammen: Union-Kapitänin Lisa Görsdorf schreit kurz auf und bleibt liegen. Sie wird behandelt, nach fünf Minuten geht es weiter. Sich durchbeißen. Und kämpfen.

Das Match findet auf einem Platz direkt neben dem Stadion Alte Försterei statt. Vier Tage Training bei Minustemperaturen stecken den 15- bis 16-Jährigen noch in den Knochen, am nächsten Tag steht schon wieder ein Turnier an. Jetzt brüllt Trainer Sven Fiedler: „Mädels, konsequent bleiben da hinten!“

Fußball unter professionellen Bedingungen für junge Frauen – bei Union ist das Normalität geworden. Das U17-Team kickt seit vergangenem Jahr in der neu gegründeten Bundesliga der Juniorinnen. Hier ist Mädchenfußball Leistungssport, hier steht er gleichberechtigt neben dem der männlichen Junioren. Noch vor 15 Jahren wäre das nicht denkbar gewesen, sagt Trainer Fiedler.

Kein Interesse an Mädchen

Zweifellos gibt es in der Region – man denke an Turbine Potsdam, Türkiyemspor oder den 1. FC Lübars, der mit Hertha BSC kooperiert – viele vorbildliche Standorte für Frauenfußball. Zweifellos geht es aber knapp zwei Jahre nach der Frauen-WM im eigenen Land auch darum, den Boom der vergangenen Jahre nicht verebben zu lassen. Denn noch immer ist die Jugendarbeit in den meisten Vereinen ganz auf Jungen ausgerichtet – im Breitensport versucht man gar nicht erst, Mädchen zu gewinnen. „Das Hauptziel in den Vereinen bleibt die Ausbildung männlicher Jugendlicher für den Profibereich“, sagt Fiedler. Und auch Johann Förtsch, Trainer der Türkiyemspor-U17, bestätigt: „Die ‚erste Herren‘ ist in jedem Berliner Amateurverein das Aushängeschild. Das muss man sich einfach vor Augen halten.“

Das macht sich auch im Juniorinnenbereich bemerkbar. Oft bekommen die Mädchenteams die Randtrainingszeiten – was bedeutet, dass sie entweder früh am Nachmittag oder spät am Abend ranmüssen. Selbst bei Türkiyemspor scheint es die hundertprozentige Gleichstellung nicht zu geben: „Ich glaube zum Beispiel nicht, dass wir immer die neuesten Bälle kriegen“, sagt Coach Förtsch.

Die Referentin für Mädchenfußball beim Berliner Fußball-Verband, Christine Lehmann, sagt: „Mädchen werden viel später an den Fußball herangeführt. Bei Jungs ist es selbstverständlich, dass sie schon mit fünf, sechs Jahren im Verein spielen.“ Lehmann hat auch schon Ideen, wie das geändert werden könnte: „Gut wäre eine Aktion, bei der jeder Junge seine Schwester zum Probetraining mitbringt.“ Noch werde Mädchen quasi anerzogen, dass ihnen der Umgang mit dem Ball nicht liege. „Die Mädchen trauen sich so wenig zu, wenn sie das erste Mal zu uns kommen“, sagt Trainer Förtsch, „das glaubt man gar nicht.“

Selbstbewusstsein fördern

Montagabend, Kreuzberg. Unter dem Flutlicht auf dem Sportplatz an der Blücherstraße leuchten blaue Türkiyemspor-Trikots. Vier Mädchen springen auf der einen Platzhälfte über drei kleine Hürden, vier weitere üben auf der anderen Hälfte das Führen des Balles am Fuß. „Jetzt mal nur Außenrist“, gibt Coach Förtsch vor. Kurz darauf: „Und jetzt nur Innenrist.“ Die U17-Mädchen von Türkiyemspor Berlin lachen, rennen wild umher, sind albern oder kabbeln sich. „Die belästigt mich, die zieht an meinen Haaren“, beschwert sich eine. Bei Türkiyemspor steht, im Gegensatz zu Union, eher der Breitensport im Zentrum. Die soziale Einbindung der Kids und der integrative Gedanke des Sports sind hier elementar.

Der Anteil der Spieler und Spielerinnen mit Migrationshintergrund lag vor drei Jahren bei 44 Prozent. In der Mädchenarbeit ist den Trainern vor allem der pädagogische Effekt wichtig, man will Selbstbewusstsein und Verantwortung fördern. „Wir wollen starke Mädchen“, sagt Marc Feld, der zweite Trainer neben Förtsch.

Feld und Förtsch studieren soziale Arbeit – sie denken das Fußballfeld gleich als gesellschaftliches Feld. Die Trainer erleben auch immer noch Eltern, die es nicht gerne sehen, dass ihre Töchter kicken – oder es ihnen gar verbieten. „Manche kapieren nicht, wie wichtig das Fußballspielen für die Mädchen sein kann“, sagt Feld. Dass Fußball einen Weg zu mehr Autonomie und Durchsetzungsvermögen ebnet, ist in der sozialen Arbeit unumstritten.

„Ich glaube schon, dass Frauenfußball zur Emanzipation beitragen kann“, sagt Union-Trainer Fiedler. Er erlebe in der täglichen Arbeit, wie das Spielen die Mädchen stark mache. Wichtig sei, ihnen zu signalisieren, dass sie die gleichen Rechte auf dem Platz haben wie die Jungen.

Auf dem Kunstrasen wird gegrätscht, geackert, gefightet

„Bei den meisten Jungs ist es angekommen, dass Fußball auch eine Mädchensportart ist“, sagt Ayla, 16. Sie trainiert gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Alyssa bei Türkiyemspor. Beide kommen aus einer echten Fußballerinnenfamilie, auch die jüngeren Schwestern kicken bereits.

Erste Abwerbeversuche

Türkiyemspor hat kürzlich nach etlichen Integrationspreisen eine weitere Auszeichnung bekommen: den Hatun-Sürücu-Preis der Berliner Grünen. Er ging an die Mädchen- und Frauenfußballabteilung des Vereins, und er richtet sich an Mädchen und Frauen, „die in herausragender und vorbildhafter Weise ihren eigenen Weg gehen– unabhängig von überkommenen Rollenvorgaben“.

Bei den U17-Juniorinnen steckt man in dieser Saison dennoch in einer schwierigen Situation. Während im Jungenbereich in vielen Klubs zweite, dritte und vierte Teams in den Jahrgängen gegründet werden, ist man bei den Mädchen froh, wenn überhaupt ein Team zustande kommt (siehe Kasten). „Jedes Mädchen ist umkämpft“, erklärt Förtsch. Sowohl im Leistungs- als auch im Breitensportbereich buhlen die Vereine um die Kickerinnen. Während man die Mädchen in den Breitensportklubs eher fragt, ob sie die Freundin aus dem anderen Kiezklub nicht mal in den eigenen Verein mitbringen wollen, gibt es im Leistungssportbereich sogar Abwerbungsversuche.

Zu Union nach Köpenick kommen auch Mädchen von anderen Vereinen – hier aber nicht, um Teams aufzufüllen, sondern um vorzuspielen und ins Leistungstraining aufzurücken. Im Union-Leistungszentrum trainieren bei den U13-, U15- und U17-Juniorinnen nur etwa 60 Mädchen – die aber alle auf höchstem Niveau. Viele wollen Profifußballerinnen werden.

Für die Spielmacherin Julie, 15, kein unrealistisches Ziel. „Ich würde schon gerne Bundesliga spielen, vielleicht sogar Nationalmannschaft“, sagt sie. Bei den Juniorinnen hat sie schon zwei Länderspiele absolviert. Julie besucht die Poelchau-Oberschule, eine Eliteschule des Sports in Charlottenburg. Gegen Prag müssen die Union-Mädchen allerdings ohne einen Treffer von Julie auskommen. Ein Elfmeter von Vanessa, ein Fernschuss von Marie, ein Solo von Jenni – und nach 0:1-Rückstand gewinnen sie doch noch mit 3:1.