: Die Vitra-Stühle sind schon da!
BOOMENDE KUNST Stabile Konjunktur, die Fußball-WM vor der Tür – in Rio de Janeiro eröffnet die Schweizer Daros Latinamerica Collection ihr neues Haus
■ Schweiz: In den 1980er Jahren bauen Thomas Ammann und Alexander Schmidheiny die „Daros Collection“ mit namhaften Künstlern wie Jackson Pollock, Ellsworth Kelly oder Louis Bourgeois in Zürich auf. Nach dem frühen Tod der Sammler übernimmt der Unternehmer Stephan Schmidheiny 1996 das Erbe seines Bruders.
■ Lateinamerika: Durch zahlreiche Aufenthalte in Südamerika angeregt, beschließen er und seine damalige Frau Ruth 2000 die Gründung einer eigenständigen Sammlung zeitgenössischer lateinamerikanischer Kunst. Beraten durch Hans-Michael Herzog, den künstlerischen Leiter der Sammlung, baut Ruth Schmidheiny diese zur umfangreichsten in Europa aus.
■ Internet: www.daros-latinamerica.net
VON EVA-CHRISTINA MEIER (TEXT UND FOTOS)
Kerzengerade ragen die hundertjährigen Palmen in den Himmel und säumen den Eingang des frisch gestrichenen, neoklassizistischen Gebäudes, der zukünftigen „Casa Daros“.
Auf dreitausend Quadratmetern Ausstellungsfläche wird die Zürcher Sammlung Daros Latinamerica in Brasiliens Metropole Rio de Janeiro Ende März beginnen, zeitgenössische Kunst aus Lateinamerika zu präsentieren. Jährlich sind dort zwei Ausstellungen mit Künstlern aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern geplant, begleitet von Workshops, Filmvorführungen, Vorträgen und einem museumspädagogischen Programm. Noch sind die Renovierungsarbeiten in dem ehemaligen Waisenhaus in Botafogo, einem Stadtteil der bürgerlichen Zona Sul von Rio, nicht abgeschlossen und die Ausstellungsräume leer. Doch in einem Saal überwacht Lole de Freitas, brasilianische Künstlerin und Teilnehmerin der Documenta 2007, bereits geduldig den Aufbau ihrer dauerhaften Rauminstallation aus türkisfarbenen Plexiglas-Flächen.
Aufwendige Sanierung
Lange hat sich die aufwendige, nach Schweizer Qualitätsstandards durchgeführte Sanierung des denkmalgeschützten Baus in Botafogo hingezogen. Angesichts der jüngsten Entwicklung im Land erscheint der Moment für die Eröffnung dieses ambitionierten Kunstprojekts nun jedoch besonders günstig. In den letzten Jahren hat die wachsende wirtschaftliche Bedeutung Brasiliens auch zu einem stärkeren politischen und kulturellen Austausch mit den spanischsprachigen Nachbarländern geführt. Es scheint, als ob das größte Land in Lateinamerika sich der gemeinsamen kontinentalen Geschichte wieder bewusst würde. In der von Sandstränden und üppigem Grün umgebenen Küstenstadt Rio de Janeiro schlägt sich die stabile Konjunktur Brasiliens besonders sichtbar in unzähligen Bauvorhaben nieder. Die Stadt bereitet sich vor – auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die olympischen Spiele 2016.
Einige der Armutsviertel wie die in der Zona Sul gelegene Favela do Vidigal wurden durch den Einsatz der Unidade de Polícia Pacificadora (UPP) in einer Mischung aus Polizeieinsätzen und Sozialprogrammen in den letzten Jahren befriedet. Nun kommt die Müllabfuhr, auch wenn die steilen Wege bergauf dafür eigentlich viel zu eng sind. Am Fuß des Hügels warten registrierte Motorradtaxis auf Fahrgäste. Auch hier wird gebaut. Überall in Rio steigen die Mieten, auch in den ehemals von Drogenkartellen kontrollierten Vierteln mit zentraler Lage, in Sichtweite zu den bevorzugten Quartieren wie Leblon, Ipanema oder Copacabana schießen die Immobilienpreise in die Höhe.
Währenddessen wird im Zentrum gerade die aufgeständerte Stadtautobahn abgerissen und unter die Erde verlegt. Das lange vernachlässigte Gebiet rund um den Hafen wird in den kommenden Jahren in einer großangelegten „Operación Urbana Puerto Maravilla“ in eine städtische Naherholungszone verwandelt. Zeitgleich mit der Casa Daros eröffnet gegenüber dem Hafen das städtische „Museu de Arte do Rio“ (MAR) unter der Leitung des Kunstkritikers und Kurators der São-Paulo-Biennale von 1998, Paulo Herkenhoff. Der spektakuläre Museumsbau besteht aus dem historischen „Palacete Dom João VI“ und einem ehemaligen Bus-Terminal. Beide Elemente werden luftig durch ein wellenförmiges, freischwebendes Dach verbunden – eine Art fliegender Teppich. Sehr viel massiver erscheint dagegen das von Affonso Reidy im Stil des „Brutalismo“ 1954 entworfene „Museu de Arte Moderna“. Der riesige, aber durch die vielen Gebrauchsspuren belebt und einladend wirkende Betonkomplex im Stadtteil Flamengo beherbergt nach einem verheerenden Brand 1978 seit 1993 die Sammlung Gilberto Chateaubriand mit über 7.000 Arbeiten brasilianischer Künstler, ein Großteil aus den Jahren 1920 bis 1970.
Ebenfalls eine beträchtliche Anzahl brasilianischer Klassiker abstrakter Kunst aus der Sammlung des Unternehmers João Leão Sattamini Neto zeigt das „Museu de Arte Contemporânea“ im etwas verschlafenen Niteroi, auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht Rios. Beim Betreten wundert man sich über die braunen Alufensterrahmen und den welligen, grauen Teppichboden des traumhaft am Wasser gelegenen Oscar-Niemeyer-Baus, doch schon bald schweift der Blick zwischen den recht unprätentiös gehängten Kunstwerken innen und dem einmaligen Landschaftspanorama außen.
Hoch gehandelt
Die konkrete und neokonkrete Kunst der fünfziger und sechziger Jahre Brasiliens fand auch dank der bereits 1951 in São Paulo gegründeten Biennale früh internationale Anerkennung. Arbeiten aus jener Zeit wie von Waldemar Cordeiro, Mira Schendel, Lygia Clark oder Hélio Oiticica sind inzwischen auf dem Kunstmarkt äußerst rar und werden dementsprechend hoch gehandelt. Damals war für zahlreiche Künstler in Städten wie Buenos Aires, Caracas, São Paulo oder Rio de Janeiro die zunächst in Europa entwickelte Konkrete Kunst der Ausdruck für die Vision einer kosmopolitischen und progressiven Gesellschaft. Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern bedeutete auch in Brasilien die Militärdiktatur (1964 bis 1985) das Ende gesellschaftlicher und künstlerischer Utopien.
Das aktuelle Interesse internationaler Sammler an brasilianischer Kunst der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre und deren Ausstellung durch renommierte Kunstinstitutionen wie dem New Yorker MoMA, haben auch der Gegenwartskunst Brasiliens weltweit eine größere Aufmerksamkeit und einen Markt verschafft, während über die künstlerische Produktion der angrenzenden Länder international wenig bekannt ist. Die Eröffnung der Casa Daros in Rio de Janeiro könnte also zeitgenössischer Kunst aus ganz Lateinamerika mehr Sichtbarkeit verleihen. Zu begrüßen wäre es, wenn es dem Chefkurator Hans-Michael Herzog und seinen Partnern vor Ort Isabella Rosado Nunes und Eugenio Valdés Figueroa gelingen würde, die neu geschaffenen Räume als Präsentations- und Kommunikationsplattform zu etablieren.
Der bisherige Showroom der Schweizer Sammlung im Löwenbräuareal in Zürich wurde bereits 2011 zugunsten des neuen Standortes aufgegeben. Angesichts der umfangreichen Erfahrung einer kolonial und postkolonial geprägten Geschichte ist es jedoch nachvollziehbar, wenn in Lateinamerika einer privatwirtschaftlichen Unternehmung wie der Schweizer Kunstsammlung auch mit Reserviertheit und etwas Misstrauen begegnet wird. So bleibt mit Spannung abzuwarten, welche neuen Verbindungen und Zusammenhänge sich für die lateinamerikanische Gegenwartskunst in Rio de Janeiro ergeben. Schließlich haben sich in den verschiedenen südamerikanischen Metropolen vielfältige künstlerische Szenen herausgebildet, deren Protagonisten sowohl auf die lokalen Bedingungen vor Ort als auch auf international geführte Kunstdiskussionen reagieren.
„Lateinamerika ist eine Fiktion“, beharrt der frühere Ko-Kurator der Havanna-Biennale und künftige künstlerische Leiter der Casa Daros, Eugenio Valdés Figueroa und erinnert damit an die Notwendigkeit, diesen Kontinent mit seinen Widersprüchen und Differenzen zu denken.
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