Wut der Ausgebrannten

Der Medizinerstreik in der Berliner Charité ist nur das Vorspiel zu bundesweiten Aktionen in Kliniken

Patienten werden im Notfall versorgt, planbare Operationen werden verschoben

AUS BERLIN SABINE AM ORDE
UND RICHARD ROTHER

„Come in and burn out“ – so sehen junge Ärzte und Ärztinnen ihre Situation. Und die trieb sie gestern in Berlin statt in den Operationssaal auf die Straße. Rund tausend Ärzte und Medizinstudenten des hauptstädtischen Uni-Klinikums Charité demonstrierten in weißen Kitteln im Schneeregen durch die Innenstadt. Ihre Losungen auf Plakaten und Transparenten: „Ein Tag = 36 Stunden“ oder „Charité ohne Ärzte noch billiger“. An der Charité hat ein Ärztestreik begonnen.

Laut den Ankündigungen des Marburger Bundes (MB), die Interessenvertretung der Klinikärzte, ist dies nur der Anfang. Eine Woche lang wollen die rund 2.200 Ärzte und Ärztinnen am größten Uni-Klinikum Europas streiken. Dann will der MB den Arbeitskampf auf weitere Kliniken ausweiten. Am 13. Dezember sollen kommunale Krankenhäuser „lahm gelegt werden“, so MB-Hauptgeschäftsführer Armin Ehl. Welche Kliniken das sind, steht noch nicht fest. Auch an der Berliner Charité sind weitere Arbeitsniederlegungen nicht ausgeschlossen. Mit den Streiks wollen die Ärzte Einkommenserhöhungen von bis zu 30 Prozent und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen durchsetzen. Für die Patienten gibt es eine Notversorgung, planbare Operationen werden verschoben.

Die Forderung nach üppigen Gehaltsverbesserungen rechtfertigte Ehl mit Einbußen in der Vergangenheit. Jetzt solle nur zurückgeholt werden, was in den vergangenen Jahren gekürzt wurde. Die Situation an der Charité sei symptomatisch für die anderen Krankenhäuser der Republik. Tausende Überstunden würden nicht bezahlt, Arbeitszeitobergrenzen nicht eingehalten.

Allein an der Berliner Charité fallen im Monat 85.000 unbezahlte Überstunden an, so Olaf Guckelberger von der Ärzteinitiative der Charité. Forschung und Lehre fänden abends oder am Wochenende statt. Immer mehr Ärzte wanderten ins Ausland ab.

Julian Bösel, einer der Streikenden, bestätigt diesen Trend. Wenn sein Zwei-Jahres-Vertrag ende, werde er vermutlich nach England gehen. „Dort verdient man viel besser“, sagt er. Zurzeit gehe er mit rund 2.700 Euro netto nach Hause, bei 60 bis 80 Wochenstunden. Bösel geht es aber nicht nur ums Geld („sonst würde ich nach Dubai gehen“), sondern um Arbeitsbedingungen und Anerkennung. Bei besseren Arbeitsbedingungen könnte er sich sogar mit dem französischen System anfreunden. In Frankreich würden junge Mediziner – nach Abschluss ihrer teuren Uni-Ausbildung – dorthin geschickt, wo sie gebraucht werden; nur die Besten könnten im begehrten Paris bleiben.

So weit ist man in Deutschland noch nicht, nicht einmal in der hoch verschuldeten Hauptstadt. Immerhin 235 Millionen Euro gibt das bettelarme Land Berlin jährlich allein für Forschung und Lehre an der Charité aus, bei 680 Studienanfängern pro Jahr. Jetzt hat der rot-rote Senat beschlossen, die Subventionen zu kürzen. Insofern ist die Charité bundesweit ein Sonderfall, hier kommen mehrere Probleme zusammen: Seit Jahren versucht das Land, zwei ehemals unabhängige Unikliniken zusammenzuführen. Zudem haben es die Ärzte mit einem Eigentümer zu tun, der in anderen öffentlichen Unternehmen deutliche Lohnsenkungen durchsetzte. Und dafür aus der Tarifgemeinschaft der Länder austrat.

Charité-Direktor Behrend Behrends sieht deshalb keine Chance, „mit dem Marburger Bund einen Tarifvertrag abzuschließen“. 30 Prozent mehr Gehalt seien nicht machbar. Zudem werde die Charité die Tarifverhandlungen in den anderen Ländern mit einem Haustarifvertrag „nicht präjudizieren“.

Der Marburger Bund kämpft derzeit nämlich an vielen Fronten: Weil die Ärzteorganisation die Tarifgemeinschaft mit der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di aufgekündigt hat, verhandelt sie nun allein über angemessene Tarifverträge für die Klinikärzte. Seit dem 12. Oktober streitet sie mit der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) über einen arztspezifischen Tarifvertrag für die 22.000 Mediziner an den Universitätskliniken.

Auch auf kommunaler Ebene will der MB einen arztspezifischen Tarifvertrag für die 120.000 Ärzte in den kommunalen Kliniken erreichen. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) hat am Freitag Gespräche aber abgelehnt. Es gebe keinen Spielraum für besondere Zugeständnisse an die Mediziner, so die Arbeitgeber. Die Ärzte sollten den neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) akzeptieren.

Den hatte der VKA mit Ver.di geschlossen, im Oktober ist er in Kraft getreten. Der Marburger Bund lehnt ihn ab, weil er die Ärzte schlechter stelle als der Bundesangestelltentarif – und fühlt sich deshalb nicht an ihn gebunden. An vielen Kliniken ist derzeit deshalb umstritten, welche Regeln für MB-Mitglieder gelten.

Für zusätzlichen Ärger sorgt ein Vorstoß des Bundesrates, die Übergangsfrist für die Umwandlung von Bereitschaftsdiensten in reguläre Arbeitszeit um ein Jahr bis Ende 2006 zu verlängern. Weil es so auch im schwarz-roten Koalitionsvertrag steht, gibt es kaum Zweifel, dass die Fristverlängerung in die Tat umgesetzt wird. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Straßburg müssen die Zeiten des Bereitschaftsdiensts in vollem Umfang als Arbeitszeit gewertet werden. Nach alter Rechtslage zählte nur die Zeit als Arbeit, in der das Personal tatsächlich in Anspruch genommen wurde.