Bremen auf dem Weg zur Emanzipation: "Der kommt nicht in den Keller"

Was tut man, wenn sich der Übervater eines politischen Gemeinwesens als entschiedener Anti-Demokrat und vehementer Judenhasser erweist? Bremen diskutiert über einen adäquaten Umgang mit Johann Smidt, dem legendären Gründer Bremerhavens

Johann Smidt, Bremer Über-Bürgermeister, auf seinem Marmorpodest vor der Tür zum Arbeitszimmer des heutigen Regierungs-Chefs Bild: dpa

Manchmal bedarf es eines Komikers, um ernste Angelegenheiten voranzubringen. Seit Loriot tot ist, häufen sich in Bremen, wo Loriots Fernseh-Karriere begann, mehr oder weniger taugliche Vorschläge für eine Würdigung Victor v. Bülows in Gestalt einer Platz- oder Straßen-Benennung. Die Idee, die zentrale Bürgermeister-Smidt-Brücke umzutaufen, führte im Umkehrschluss nun zu einer wesentlich spannenderen Frage: Muss man Bürgermeister Johann Smidt nicht ohnehin und umfassend vom Sockel holen? Der Mann ist zwar seit 155 Jahren tot - war aber ein entschiedener Anti-Demokrat und vehementer Judenhasser.

Smidts antisemitische Haltung, die zur vollständigen Vertreibung der Bremer Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte, ist nicht erst seit gestern bekannt. Dennoch erreicht die Diskussion, wie man mit dem Mann umgehen soll, nach dem Straßen, eine Schule und vieles mehr benannt sind, erst jetzt eine breite Öffentlichkeit - was sicher auch mit Smidts bisheriger sakrosankter Stellung zu tun hat.

In Bremen ist Smidt nicht etwa nur eine Bürgermeister-Legende - in diese Kategorie gehört jemand wie Wilhelm Kaisen -, sondern ein absoluter Übervater, eigentlich ein Gott. Zumindest ist ihm ein Gotteshaus gewidmet, die Bremerhavener Hauptkirche. Und überlebensgroß thront er auf einem Marmorpodest vor dem Arbeitszimmer des heutigen Regierungschefs.

Die Verehrung hat valide Gründe: Bremen verdankt Smidt nichts weniger als seine Existenz als Welthandelsstadt: Ohne die weitsichtige Gründung von Bremerhaven 1827, das wird jedem Bremer Schulkind erklärt, wäre Bremen schon im 19. Jahrhundert an der versandenden Weser ins Abseits befördert worden. "Wir verdanken Smidt letztlich den Erhalt unserer Selbstständigkeit und Eigenstaatlichkeit", sagt Smidts Nachnachnachnachnachnachnachfolger Jens Böhrnsen (SPD).

Wie emanzipiert man sich von solch einer Gestalt? Böhrnsen tat, was sich noch keiner seiner Vorgänger traute - oder für nötig hielt: Er lud in den großen Festsaal des Rathauses ein, um zu debattieren. "Smidt", schrieb Böhrnsen in der Einladung, "war alles andere als ein Vorbild." Seine Verachtung der Juden habe "furchtbaren Eingang in die nationale Gesetzgebung" gefunden.

In der Tat nutzte Smidt seine Teilnahme am Wiener Kongress, auf dem 1814/15 das nach-napoleonische Europa neu geordnet wurde, um in der Abschlussakte die Rücknahme der Bürgerrechte für die jüdische Bevölkerung durchzusetzen. "In einem christlichen Staatswesen" seien sie stets als "Fremdkörper" anzusehen. Auch den Gleichberechtigungs-Bestrebungen der Bremer Bevölkerung stand Smidt feindselig gegenüber: Er setzte alles daran, die bürgerlichen Errungenschaften der 1848er Revolution rückgängig zu machen. Erfolgreich restaurierte er den autoritären Obrigkeits-Staat.

So weit, so schlecht - und unbestritten.Was aber folgt daraus? "Es ist traurig und beschämend, Smidt in dieser Rolle zu sehen", sagt Staatsarchiv-Direktor Konrad Elmshäuser, der bereits vor fünf Jahren ein kritisches Smidt-Symposium organisierte. Und wohin jetzt mit Smidt? "Die Statue kommt auf keinen Fall in den Keller", fordert Bremens Landesdenkmalpfleger Georg Skalecki. Auch Bürgermeister Böhrnsen spricht sich gegen eine "brachiale Lösung" aus, obwohl er bei seinem berühmten Vorgänger mittlerweile "viel Schatten und wenig Licht" ausmacht. Das solle nun auf einer Plakette neben der Statue ausgedrückt werden.

"Ich wollte so eine Tafel nicht formulieren müssen", sagt ein älterer Herr, der eigens aus Bergisch-Gladbach zur Diskussion anreiste. Er bezeichnet sich als Ururenkel Smidts, wovon es übrigens ziemlich viele gibt - auf rund 800 wird die Zahl der lebenden Nachfahren geschätzt. Wie also den Spannungsbogen im Smidtschen Wirken markieren? Soll man neben die Statue schreiben: "Johann Smidt, Bremerhaven-Gründer und Judenhasser"? So wie man bei Karl Carstens, als gebürtiger Bremer ebenfalls im Rathaus mit einer Büste geehrt, "SA-Sturmmann und Bundespräsident" darunter schreiben könnte?

Die angedachte Plakette soll nach Einschätzung von Regierungssprecher Hermann Kleen aus drei kurzen Absätzen bestehen - wird also kaum transportieren können, was Smidts Antisemitismus so folgenreich machte: Seine verhängnisvolle Wirkung liegt in der Scharnier-Funktion, die Smidt im Übergang vom "traditionellen" religiösen Anti-Judaismus zum politischen Antisemitismus der Moderne einnimmt. Der Pastorensoh, selbst ein gelernter Seelsorger, wuchs zwar mit der schon von Luther geprägten Ablehnung der Juden als "Mörder unseres Heilands" auf, begründete seine unversöhnliche Ablehnung aber stets diffus-politisch.

Es wäre also deutlich zu kurz gegriffen, würde man Smidt in seinem Anti-Semitismus lediglich als Kind seiner Zeit begreifen. Smidt setzte die ausnahmslose Judenausweisung gegen zum Teil massiven Widerstand aus der Bremer Oberschicht durch: Etliche Fernhandelskaufleute sprachen sich gegen die Vertreibung aus.

Auch die Gesandten wichtiger Staaten wie Preußen und Österreich protestierten beim Bremer Senat vehement gegen die Vertreibungspolitik. Ihre Regierungen hatten Sorge vor einer Ausweitung des Bremer Beispiels, konkret auch vor einer Aufstachelung des "Volkszorns", wie er sich 1819 monatelang in den progromartigen "Hep Hep-Unruhen" ausgetobt hatte. Zur preußische Staatsräson etwa gehörte die vollständige Assimilierung des deutschen Judentums.

Ein differenziertes Bild zeigten auch die Hansestädte: Während Lübeck ähnlich ablehnend mit seinen jüdischen Mitbürgern umging wie Bremen, erfreute sich die große jüdische Gemeinde in Hamburg eines sehr liberalen Klimas. Smidt sah sich sogar zu gelegentlichen Abstrichen in seiner antijüdischen Politik oder zu deren Verschleierung genötigt: "Er verschob antijüdische Erlasse, um Bremens Position im Bundestag bei wichtigen Fragen wie dem umstrittenen Weserzoll nicht zu schwächen", sagt der Historiker Andreas Lennert, der Smidts Korrespondenz zwischen Bremen und Frankfurt, dem Sitz des Bundestages, akribisch erforscht hat. Zudem habe Smidt in Frankfurt schlicht die Unwahrheit verbreitet, um Berichte über die Bremer Judenverfolgung zu entkräften.

In Bremen selbst wurde Smidts antijüdischer Kurs nicht nur vom Senat gestützt, sondern auch von Einzelhändlern. Insbesondere die Vertreter der Tuchmacher, der Weinhändler und das Krameramt agitierten Lennert zufolge gegen die Juden. Ökonomisch gesehen kann es sich dabei um kaum mehr als eine gefühlte Konkurrenz gehandelt haben: In Bremen lebten seinerzeit lediglich 120 Juden - vor der französischen Besatzung war ihnen der Zuzug ebenfalls verboten gewesen. Damit im Einklang scheint auch Smidts Judenhass primär emotional geprägt zu sein.

Für die ersten veritablen Risse im Bremer Smidt-Bild bedurfte es denn auch einer Erschütterung von außen: Der frühere Hamburger Bürgermeister Herbert Weichmann (SPD) weigerte sich 1973, einer Einladung nach Bremen zur "Smidt-Sitzung" zu folgen: Ein großer Eklat, denn die alljährliche festliche Veranstaltung an Smidts Geburtstag zur Eröffnung der Wittheits-Vorlesungen war einer der kulturellen Höhepunkte im Bremer Gesellschaftsleben. Weichmanns Absageschreiben enthielt den trockenen Hinweis, Smidt selbst hätte ihn auch nicht dabeihaben wollen - Weichmann war Jude.

Spannend wird nun, was in Bremen mit Smidt-Brücke, -Straße, -Kirche und -Schule geschieht. Sind das nicht viele entscheidendere Orte als eine Einzelstatue im Rathaus? "Diese Debatte werden wir nicht anstoßen", sagt Regierungssprecher Kleen, die Schulen beispielsweise seien in ihrer Namensgebung autonom. Man warte nun ab, ob von dort eine Initiative komme.

Das freilich könnte weitreichende Domino-Effekte hervorrufen: Nicht nur in Bremen sind zahlreiche öffentliche Orte nach Kolonialisten, Imperialisten und blutrünstigen Generälen benannt. Kaiser Wilhelm etwa - in Sachen Marine-Rüstung eng mit Bremen verbunden, im Bremer Rathaus ist ihm ein Raum gewidmet - wetterte noch im holländischen Exil wüst gegen die Juden. Loriot könnte hier so manchen Platz übernehmen.

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