strafplanet erde: die arschkalte unendlichkeit des leeren raumes von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Mittenmang in die zufallsgesteuerte Lektüre klingelte das Telefon. „Lass läuten“, dachte ich und widmete mich wagemutig der Wucht des Gelesenen ein weiteres Mal: „Hinausgeschleudert in die kalte Unendlichkeit des leeren Raumes und der leeren Zeit …“ – ja doch, Moment, einen Augenblick, bin gleich so weit – „… befindet sich das Subjekt angesichts eines jeglicher Bedeutung entblößten Stoffes …“ – der Anrufer blieb und blieb beharrlich – „… Stoffes, den es gemäß der ihm, dem Subjekt, innewohnenden Ideen verarbeiten und formen muss.“

Die Tonnenschwere wäre nun zu verarbeiten und zu formen gewesen, aber das Telefon gab weiter Laut, dringlicher noch, rabiat. Was ich kurz darauf in die Sprechmuschel murmelte, war harmloseren Kalibers als der knappe Auszug der erkenntnistheoretischen Untersuchung: „Aha, ja, na dann.“

Mehr als diesen Fünfsilber mit hohem A-Anteil brachte ich nicht heraus. Unsanfte Landung aus der arschkalten Unendlichkeit des leeren Raumes und der leeren Zeit: Der Steuerberater hatte ausgerechnet, wie viel Zaster ans Finanzamt zu überweisen war. So viel war’s gar nicht, aber wenig kann ja viel sein, wenn gerade nichts da ist außer Novembertristesse, Wintereinbruch, Schneechaos. Und du scheinst ja was verdient zu haben, sonst wären keine Steuern angefallen … kapiert, du Vollposten?

Nach vorne schauen, Geld oder Leben, brachialte es mutmaßlich durchs Zwischenhirn. Hektisch wurde mit dem Krisenstab gewinkt. Das Resultat war flachsinnig, aber einsichtig: Angebote müssen raus, Aufträge her. Flugs wurden Register und Kalender zu Rate gezogen, um nach Jubiläen zu fahnden. Rundliche Geburts- oder Todestage, Welt- oder Dorf- oder Weltdorfgeschichtliches mit provisorischem Ereignischarakter … der Markt lechzt nach Anlässen zum historischen Gedenken. Obsessiv, biederlich, inflationär. Immer mehr, immer öfter. Neulich würdigte das Radio sogar Queens Album „A Night at the Opera“, das vor 25 Jahren erschienen ist. Warum auch nicht?

Für das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 war‘s definitiv zu spät. Eine Katastrophe, auf die Europa mit Entsetzen und Fassungslosigkeit reagiert hatte, die den Glauben an die Überlegenheit der Vernunft erschütterte. Kant, Rousseau, Diderot, Voltaire kommentierten. Bis zur Wiedervorlage 2055 würde sich die beste aller möglichen Welten gedulden müssen.

Schiller, Einstein, Mozart, Heine – alle längst abgehakt. Doch womöglich könnte man einen jener Unsterblichen ausfindig machen, die, wie ich irgendwo abgeschrieben hatte, „auf einer Art galaktischer Umlaufbahn um einen entfernten Planeten namens Erde schweben“ und „zu so etwas wie mentalem Weltraumschrott geworden“ sind: „Zu Jubiläen funkt man das Objekt an: ja, er ist noch da – bis zur nächsten Routinekontrolle, bye.“ Da war er wieder, der Kontakt des Unendlichen mit einer bestimmten Sorte der beschleunigten Wiederkehr des Immergleichen.

Alfred Polgar schlug vor, „Jubiläen und dekadische Geburtstage nach vorn“ zu verlegen und plädierte für eine „freieste Wahl des Festdatums.“ Wenn sich das bitte durchsetzen könnte, ist mir nicht bange. Hühnerarsch, sei wachsam.