Dominik Grafs neues Meisterwerk auf Arte: Die rote Linie im Bärenstüberl
Regie-Star Dominik Graf zeigt in „Das unsichtbare Mädchen“ (20.15 Uhr, Arte) Grimme-Qualität – und Ronald Zehrfeld als Ermittler mit Fahrtenmesser am Gürtel.
Was für ein Film, an dessen Anfang eine in fränkischer Mundart geführte Wirtshauskonversation über „Strammen Max“ steht. Eine Frau, irgendeine Frau, die im Film keine Rolle spielt als diese, wirft einen prüfenden Blick in den Schminkspiegel.
Auf dem Fußboden verläuft eine dicke rote Linie quer durch die Kneipe. Der Polizist Tanner – ohne „h“ – ist neu im Ort, sein Kollege Michel sagt zu ihm: „Des is nämlich a Demarkationslinie.“
Für Tanner ist das so rätselhaft wie für den Zuschauer. Erst 40 Filmminuten später gibt ihm Expolizist Altendorf eine ausführlichere Erklärung für „die rote Linie bei uns im ’Bärenstüberl‘ “. „Auf der Seite, auf der ich stehe, da, wo die meisten hier in der Stadt stehen, da glauben’s heute noch, dass des Mädchen nur vermisst is und dass der Ecco unschuldig is. Und die, die auf der anderen Seite steh’n, die denken, dass es Mord war und dass der Ecco der Mörder war.“ Authentizität. Dominik Graf kann solche Atmosphären schaffen wie kein zweiter Filmregisseur hierzulande.
En passant, durch ein paar Blicke aus dem Autofenster, auf die Beschriftungen, erschließt Graf in seinem Beitrag zur „Dreileben“-Trilogie die südthüringische Landschaft. Dieser neue Film nun spielt in Oberfranken, einen Katzensprung nur entfernt von der bayerisch-thüringischen Grenze. Die tschechische Grenze ist auch nicht weit. Wieder so eine Autofahrt mit Blicken aus dem Fenster. Straßenstrich und billige Bordelle. Beschriftungen wie „Luzi-Club“. Milieu. Atmosphäre. Antiidylle. Dominik Graf macht alternative Heimatfilme. Er hat gerade seinen zehnten Grimme-Preis gewonnen – mehr davon hat keiner.
Zoom-in auf den Kasten
Zum Beispiel, wie demonstrativ er den bei anderen Regisseuren verpönten Zoom einsetzt: der Schauspieler Tim Bergmann in einer halbnahen Einstellung, auf dem Münchner Olympia-Gelände, telefonierend. Extremer Zoom-out in die Totale. Ein Jogger läuft ins Bild, ein Kameraschwenk folgt ihm, endet, als ein Zeitungskasten ins Bild kommt. Zoom-in auf den Kasten. Detailaufnahme der ausgestellten Zeitung. In der Überschrift geht es um eine „Dr. Dagmar von Lossau“. Die hat der von Bergmann dargestellte Dr. Kurt Nieberger gerade am Telefon.
Sie tauschen sich über eine gemeinsam eingefädelte Intrige aus. Der, gegen den sie sich richtet, ist Innenminister und möchte gern Ministerpräsident werden – er muss einem nicht leidtun. Wahlkampf, Spezerlwirtschaft, organisiertes Verbrechen, Prostitution, Kindersex, Kindesentführung, Mord – Graf und seine Autoren Friedrich Ani und Ina Jung bringen so einiges aufs Tablett. Friedrich Ani ist als Krimiautor ähnlich profiliert wie Graf als Krimiregisseur.
Wenn sie einen spröden, verstörenden, destruktiven Film gemacht haben, dann deswegen, weil sie so einen Film machen wollten. Das Ende ist nur bedingt versöhnlich, die Gerechtigkeit, die geübt wird, nicht die des Strafgesetzbuchs. Tanner ist der Held, ein Ermittler mit Fahrtenmesser am Gürtel, jung und doch ein Loner vom alten Schlag. Kollege Michel ist sein Gegenspieler. Altendorf hat mit Michel noch eine alte Rechnung offen, er hilft Tanner auf die Spur.
Wie mit Ani hat Graf auch mit den Schauspielern Ronald Zehrfeld, Ulrich Noethen und Elmar Wepper schon vorher gefilmt. Zehrfeld mag der Mann der Stunde sein, gerade wird er für seine Rolle in „Barbara“ allenthalben hoch gelobt. Den Vogel aber schießt in diesem Film Noethen ab, als schmierigster, skrupellosester Bulle in der deutschen Krimigeschichte. Er trägt Kurzarmhemden mit Krawatte.
„Das unsichtbare Mädchen“ ist ein Spielfilm. Aber am 7. Mai 2001 verschwand das reale Mädchen Peggy aus dem oberfränkischen Lichtenberg. Die Parallelen, die es gibt, sind kein Zufall.
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