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Kolumne Bestellen und VersendenDas Märchenland der Presse

Aram Lintzel
Kolumne
von Aram Lintzel

Exotische Bilder von der chinesischen Realität? Sind wir alle manipuliert? Im Alltag hat jeder eine spontane Ideologie zu China parat.

K ürzlich gab es in der taz einen interessanten Disput zwischen der Kunsthistorikerin Lydia Haustein und der China-Korrespondentin Jutta Lietsch über die Frage, wie objektiv die deutsche Presse aus und über China berichtet.

Dahinter steht ein grundsätzliches, wenn man so will epistemologisches Problem: Wer hat privilegierten Zugang zu der chinesischen „Realität“ und wer geht Fantasien auf den Leim? Als ich mich vor ein paar Wochen auf einen Peking-Besuch bei Freunden inhaltlich vorbereitete, dröhnte mir aus fast jedem China-Text das Lamento über westliche Vorurteile entgegen – wobei der jeweilige Autor natürlich besseres Wissen für sich reklamierte.

Sind wir also alle manipuliert? „China. Der deutschen Presse Märchenland“ hieß eine Flugschrift von Günter Amendt aus dem Jahr 1968, in einer Hommage hat die Publizistin Vera Tollmann kürzlich Passagen aus deutschen Zeitungstexten zu Ai Wei Wei zu einem psychedelisch repetitiven Text zusammenmontiert, der Denkklischees entlarvt („China. Der deutschen Presse Märchenland 2“). China, so scheint es, testet den westlichen Blick.

Auch im Alltag hat jeder eine spontane Ideologie zu China parat, wer über das „Reich der Mitte“ redet, läuft Gefahr, sich als Eurozentrist, Kulturrelativist oder Schwätzer zu outen. Doch nicht jede Verkennung muss gleich falsch sein, der naive Wunsch nach einer unbeeinträchtigten Wahrheit ignoriert, dass jeder Sachverhalt, um erzählbar zu sein, in ein verfremdendes Narrativ gebracht werden muss.

Die amüsanten China-Berichte des Autors und taz-Kolumnisten Christian Y. Schmidt etwa zeigen, dass gerade die dramatische Übertreibung oft mehr Erkenntnisse liefern kann als neueste Wirtschaftsdaten oder Realpolitikfakten. Über Schmidts manchmal etwas exotisierende „Die spinnen, die Chinesen“-Haltung sieht man dabei großzügig hinweg.

Nicht zuletzt die rätselhafte und alles andere als konsistente Zensur forciert die Spekulationen und Gerüchte in und um China. Die Logik von Geheimnis und Gerücht schafft eigene Wahrheiten. „Irgendwas war da“, sagte mir ein in Peking lebender und ganz bestimmt um Objektivität bemühter Autor, als er über die angeblichen putschistischen Schüsse im Regierungsbezirk mutmaßte.

DER AUTOR

ARAM LINTZEL ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin.

Überhaupt nimmt vieles geradezu theatrale Formen an. Die seltsame Hassliebe zum „Westen“ bringt kuriose Aneignungspraktiken hervor. Eine Shopping Mall ist in Peking nicht einfach eine Shopping Mall, sondern eine für den westlichen Blick ausgestellte Shopping Mall (die dann auch mal futuristisch „Digital Mall“ genannt wird). Vielleicht gilt das selbst für das politische Handeln.

Weil dieses immer schon unauthentisch ist, sehen sich Journalisten zu Dauerhermeneutik verpflichtet, nach dem Motto: ’Was wollen sie (die Chinesen) uns damit sagen?‘ Sicher: Die theatrale Qualität von Geschehnissen wie dem Drama um Bo Xilai macht den Streit um die Wahrheit nicht verzichtbar, sonst geriete man in die relativistische „Alles nur Show“-Falle.

Im Disput zwischen Haustein und Lietsch ging es auch darum, wie sehr wir das chinesische Denken als ’ganz anders‘ verdinglichen. Leider nur angerissen wurde dabei die für unseren Blick auf die chinesische „Bühne“ entscheidende Frage, welchen Platz das Land in der symbolischen Ordnung des Westens einnimmt. Diskursmaterial gibt es genug: Warum zum Beispiel stürzten sich letzte Woche alle Medien auf die Nachricht, dass ein chinesischer Schüler seine Niere für ein iPhone verkauft hat? Sollte damit zugleich die Angst geweckt und beruhigt werden, dass der Konsumismus in Barbarei umschlagen könnte, zum Glück aber eben nicht bei uns, sondern in China?

Verstehen lässt sich das in der Tat nur, wenn man die Phantasmen und Projektionen anerkennt, anstatt sie schlicht annullieren zu wollen. So wie es einen ideologischen Orientalismus gibt, gibt es einen „Sinoismus“, der exotische Bilder produziert. Alle sind irgendwie darin verstrickt; dankenswerterweise haben Lietsch und Haustein mit ihrer kleinen Kontroverse angedeutet, dass es sich lohnen könnte, da rauszuwollen.

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Aram Lintzel
Politikwissenschaftler, arbeitet seit 2022 im Leitungsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, vorher Referent für Kulturpolitik in der grünen Bundestagsfraktion. Autor und Redakteur für verschiedene Publikationen (Spex, de:bug, Texte zur Kunst, Polar, Travel Almanac ...). Schrieb von 2009 bis 2016 die monatliche taz-Kolumne "Bestellen und Versenden", seither gelegentlich noch taz-Autor. Themen: Popmusik, Theorie, Ideologiekritik. Bilanz mit der Grünen Tulpe gegen taz Panter FC: 2 Siege, 0 Unentschieden, 0 Niederlagen.
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3 Kommentare

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  • I
    itroll

    "Eine Shopping Mall ist in Peking nicht einfach eine Shopping Mall, sondern eine für den westlichen Blick ausgestellte Shopping Mall."

     

    Das erscheint mir (nach dem zweiten Pekinger Winter) als groteske Selbstüberschätzung eines westlichen Ausländers. Die Chinesen haben das Konzept "Shopping-Mall" aus dem Westen importiert; unter Mao gab es sowas nicht. Im nächsten Schritt wird das Konzept chinesisch implementiert: größer, schöner, "Big Face". Auch die Shopping-Mall nebenan gilt es zu übertreffen. Dass dann wir Ausländer mit offenem Mund die Olympia-Eislaufhalle im 7. Stock anglotzen, war nicht das ursprüngliche Ziel des Architekten. Zumal diese Malls auch stehen, wo nur sehr wenige Ausländer vorbeikommen.

  • RL
    R. Lange

    Es ist nicht nur schwierig, über China zu schreiben, es ist auch schwierig, sich ein Bild zu machen, wenn man dort ist.

     

    Die fehlende Pressefreiheit überlässt riesige Bereiche den Vermutungen, die je nach politischen Vorurteilen oder dem Grad der Paranoia sehr unterschiedlich ausfallen können. Westdeutsche erinnern sich vielleicht, wie wenig über den Nachbarstaat DDR bekannt war, obwohl über ihn viel berichtet wurde und er lebhaft besucht wurde.

     

    Der sehr ausgeprägte chinesiche Nationalismus, der den grössten Teil der chinesischen Bevölkerung erfasst hat, macht misstrauisch gegenüber positiven und fehlenden negativen Nachrichten.

     

    Zudem sind in China und ausserhalb Chinas (siehe Frau Haustein) die Vorurteile verbreitet, es gäbe eine soziale Gerechtigkeit in China, die fehlende Menschenrechte aufwöge, China sei nicht geeignet für ein westliches demokratisches System u. ä. Dahinter versteckt sich regelmässig eine emotionale und letzten Endes irrationale Kapitalismus-Kritik mit gefährlichen Schlussfolgerungen.

     

    Natürlich sind die Leistungen in China nicht zu übersehen. Wo aber über die durchaus vorhandenen Kehrseiten geschwiegen werden muss, bleibt eine Bewertung schwierig.

  • XZ
    Xie Zeren

    Danke für diese Kolummne, die erstaunlicherweise von einem grünen Politprofi stammt. Das sage ich deshalb, weil ich von den Grünen seit 2o Jahren nichts wirklich produktives und/oder kreatives zum Thema bekomme. Die Kritik an den Umweltverhältnissen halte ich für berechtigt und sinnvoll, die Analyse, der chinesische Staat sei dafür allein verantwortlich zu machen, dagegen in keinster Weise, da entwicklungspolitische Erwägungen in dem Zusammenhang gar keine oder nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen.

    Die rhetorische Frage "Sind wir alle manipuliert" würde ich im Falle der China-Berichterstattung mit einem unbedingten "Ja" beantworten. Nur diejeigen, die mit den Menschen in direktem Kontakt, sei es vor Ort, sei es über familiäre Bande, sei es beruflich, in Kontakt stehen, kann man diese Manipulation durch die OECD-Medien absprechen. Dazu gibt es die interessante Studie bei der Böll-Stiftung (http://www.boell.de/publikationen/publikationen-china-berichterstattung-medien-9409.html), auf die ich in diesem Zusammenhang immer wieder gerne hinweise. Sie arbeitet das Thema mit wissenschaftlichem Anspruch auf und entspricht voll und ganz meinem Eindruck der Berichterstattung über einen Zeitraum von 24 Jahren (einschließlich der taz). Ausnahmen bestätigen die Regel und nur sehr allmählich, analog zu den wachsenden persönlichen Erfahrungen nach China reisender oder dort lebender Menschen aus D, ändert sich das Bild. Die letzten 15 Monate zeigen aber in der Berichterstattung nach wie vor eine klare Tendenz: Themen wie Zugunglück bei Wenzhou, Inhaftierung von Dissidenten, Unterdrückung in Tibet, Machtanspruch der KP, Verschärfung bestehender Gesetze, Durchsetzung aussenpolitischer Interessen, kurz, Themen, die ein negatives Image von China, seinen Menschen, seiner Führung zeichnen, sind zahlenmäßig weit häufiger und sorgen immer wieder für Aufmacher in der Presselandschaft.

    Positives wird i.d.R. nur kurz und in entsprechend klischeehaften Bildern vermittelt, z.B. alte Kultur (-nation), Motor für die Weltwirtschaft, steigende Chancen durch beschleunigte Entwicklung, Demokratisierungsprozesse und Ausbau des Rechtsstaates.

    Manches Mal wähnt man sich selbst in einem Traumreich und glaubt die Vorwürfe von Propaganda durch chinesische Führung und Medien, der man angeblich aufsitzt. Bis man wieder mit den Menschen spricht, die Geschichten hört vom Leben der Eltern, Anekdoten aus der frühen Kindheit und modernen Biographien, die sich gar nicht so sehr von denen unterscheiden, wie sie im "Westen" gelebt werden. Und die historischen Fakten sich in Erinnerung ruft und wie sich das Reich der Mitte die letzten 120 Jahre von einer antiken Macht mit allen Höhen und Tiefen zu einer modernen Wirtschaftsmacht gemausert hat. Und Vergleiche zieht mit den Staaten und Gesellschaften, die in der Hinsicht, Maßstab sein könnten. Die Tigerstaaten, Taiwan, Singapur, Hongkong (vor dem Hand-over), Südkorea sind allesamt zu kleine Volkswirtschaften, und eher kommt Indien als Vergleichsmaßstab infrage. Von den Schwellenländern geht jedes seinen eigenen Weg und hat seine eigene Vorgeschichte und damit verbundene Probleme. Von der Größe her, ist am ehesten Indien entsprechend und da sind die Unterschiede teils gravierend. Und wie wenig liest man von dem Elend in Indien, das doch viel stärker vorhanden zu sein scheint. Da sieht man die Instrumentalisierung am besten, in den Schlagzeilen über diese beiden Länder. Im Reisejournal der taz durfte man vor kurzem sehr positive Überschriften zu Indien zur Kenntnis nehmen. Da heißt es vor der "OECD-Propaganda" auf der Hut sein. Ein kritischer Artikel zum Thema hungernder Kinder in Indien (es sterben dort jedes Jahr 1,2 Mio. Kinder an den Folgen von Unterernährung) von Georg Blume in der Zeit bleibt eine Eintagsfliege und wird von keinem anderen Medium aufgegriffen. Auch im Zusammenhang des Welthungerberichts der FAO, der ja dafür Zahlen liefern sollte, wird nicht zum Anlass einer solchen Berichterstattung genommen. Da stellt sich doch die Frage sehr klar: Was wiegt schwerer, das Leid einiger Dissidenten, die permanent durch die "Westpresse" geistern oder das Leid von Millionen hungernden Kindern in einem Land, das angeblich demokratisch geführt wird und sich ebenfalls auf dem Sprung befindet, zu den "developed countries" aufzuschließen?