Die Wahrheit: Kevin Einstein
Tosender Beifall für das Referat des 16-jährigen Kevins: „Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt“.
Als der 16-jährige Kevin sein zwanzigminütiges Referat „Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt“ beendet hatte, brandete im vollbesetzten Physiksaal der Jörg-Pilawa-Gesamtschule tosender Beifall auf. Auch Physiklehrer Harald Schweiglein war tief beeindruckt von den theoretischen Höhenflügen seines Zöglings und der sprachlich ausgefeilten, wenn auch etwas altertümlich anmutenden Darstellung des schwierigen Gegenstandes.
Kevin, ein blasser Jüngling, der bislang nicht weiter durch besondere Leistungen aufgefallen war, hatte sich in seinem Vortrag in einen physikalisch-philosophischen Rausch hineingesteigert, der einem altgedienten Professor einer unserer Hochschulen gut zu Gesicht gestanden hätte.
Ja, das musste sich Lehrer Schweiglein eingestehen, ganz hatte er dem Gedankengang nicht folgen können, in jedem Falle aber hatte er diesen schüchternen Jungen mit der Streberbrille sträflich unterschätzt. Was Schweiglein nicht wusste: Diese klobige Brille hatte es ja auch wirklich in sich – handelte es sich doch dabei keineswegs um das übliche Kassengestell von Fielmann, sondern um die neue Cyberbrille von Google.
Bei diesem Hightech-Gerät werden Inhalte aus dem Internet aufbereitet und auf das Brillenglas projiziert. So funktioniert sie wie ein mobiler Teleprompter, von dem sich, unbemerkt vom Gegenüber, beliebige Texte ablesen lassen. Im Falle Kevins waren es Teile eines berühmten Aufsatzes von Albert Einstein aus dem Jahre 1905.
Bekannt ist diese Technik seit langem. Schon als Arnold Schwarzenegger den „Terminator“ spielte, scannte der Cyborg die Umgebung und in seinem Blickfeld tauchten Informationen zu Personen, Autos oder Gebäuden auf. Heutzutage wird die sogenannte augmented reality in vielen Bereichen eingesetzt. Bei Autobauern wie Mercedes oder General Motors wird die Frontscheibe zum Display, auf dem beispielsweise Hinweise auf Sehenswürdigkeiten am Rande der Strecke eingeblendet werden. In Kampfjets sind solche Head-up-Displays schon lange Standard – Piloten sind also immer bestens informiert, welches kunsthistorisch bedeutsame Gebäude sie gerade bombardieren.
Und nun soll mit Googles Cyberbrille also auch der Massenmarkt mit dieser Anzeigetechnik erschlossen werden. Kevin und seine Mitschüler jubeln schon – wird diese Brille doch bestimmt auch bei Schulaufgaben und Klausuren wertvolle Dienste leisten. Auch Politiker, die rhetorisch nicht so beschlagen sind, werden in Zukunft mit elaborierten Redebeiträgen auf sich aufmerksam machen können.
Und für Kartenspieler werden sich ungeahnte Perspektiven eröffnen: Mithilfe einer an der Decke installierten versteckten Kamera lassen sich bequem die Karten der Mitspieler in die Brille einspiegeln. Was aber den endgültigen Durchbruch bei Otto Normalconsumer bringen dürfte: Mit einem Smart-Kühlschrank verbunden, ist jederzeit der aktuelle Biervorrat abzurufen. Unnötige Gänge zum Kühlschrank während eines Fußballspiels gehören ab sofort der Vergangenheit an.
Brechen also paradiesische Zeiten an für die Info-Elite? Ist die Content-Avantgarde endgültig auf dem Weg ins virtuelle Schlaraffenland? Zweifel dürfen angebracht sein, wie das Beispiel des BWL-Studenten Florian Wintrow zeigt. Mitten in sein Referat über „Die ethische Dimension der Personalbedarfsplanung“, das er im freien Vortrag von seinem Frontsicht-Display ablas, wurde von Google zielgenau eine Werbeeinblendung platziert.
Leider merkte Wintrow zu spät den abrupten Themenwechsel und so verkündete er den verdutzten Zuhörern ungebremst auch die Werbebotschaft der Ergo-Versicherung: „Versichern heißt verstehen. Menschen wünschen sich transparente und verständliche Informationen, wenn sie vorsorgen und sich vor Risiken schützen wollen. Damit sie genau wissen, was sie bekommen, spricht Ergo Klartext und vermeidet komplizierte Fachsprache. Das meinen wir mit unserer Verstehensgarantie. Unser Ziel ist es, Kunden vom ’Hä?‘ zum ’Ah!‘ zu bringen.“
Florian Wintrow konnte mit seinem Referat dieses Ziel leider nicht erreichen.
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