Das Kind vom „Weltwoche“-Cover: Der Junge, der die Schweiz ausraubt
Auf dem Cover der Schweizer „Weltwoche“ zielte der kleine Mentor auf die Eidgenossen. Ein Besuch bei seiner Familie im Romaghetto im Westen des Kosovo.
GJAKOVA taz | Man erkennt sie an ihren Händen: schwarz wie die Krähen, die von den Abfallbergen in den Himmel steigen. Frühmorgens, wenn Sonne und Konkurrenz noch schlafen, begeben sich die MüllsammlerInnen von Gjakova in die umliegenden Städte und Dörfer auf der Suche nach verwertbarem Schrott.
Ihre Schätze sind die Abfälle der anderen. Die Arbeit ist mühsam und hart, aber für die Roma im Westen des Kosovo ist sie eine der wenigen Möglichkeiten, sich ein Einkommen zu sichern.
Anfang April wurde er einer größeren Öffentlichkeit bekannt: ein kleiner Junge mit dunkler Haut, dunklen Augen, dunklen Haaren – er hielt eine Spielzeugpistole in der Hand und zielte auf den Betrachter. In Wahrheit aber zielte eine Zeitschrift auf ihn – und auf seine Gemeinschaft. Die Schweizer Weltwoche, die das Foto des Jungen auf ihrem Cover veröffentlichte, titelte darunter: „Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz“.
Die Schweizer Weltwoche hatte am 5. April ein Bild von dem Roma-Kind Mentor mit Pistole gezeigt und dazu getitelt: "Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz".
Das Foto stammt von dem italienischen Fotografen Livio Mancini. Er hat es 2008 auf einer Mülldeponie am Rande der kosovarischen Stadt Gjakova aufgenommen. Die Kinder nutzten die giftige Abfallhalde als Spielplatz.
In der Schweiz, in Österreich und in Deutschland sind Anzeigen gegen die Weltwoche eingegangen - etwa vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wegen Volksverhetzung und Beleidigung.
Jetzt schaut Mentor M. etwas ratlos in die Runde: Der Haarwirbel über dem rechten Auge, die fallenden Augenwinkel, der leichte Silberblick – er ist ohne Zweifel der Junge vom umstrittenen Weltwoche-Titelbild.
Mentor und seine zwei Schwestern Sinita und Shkurte setzen sich schüchtern neben ihre Eltern Rexhep und Teuta. Sie hocken in einem knapp zwölf Quadratmeter großen Raum im Romaghetto bei Gjakova im Westen des Kosovo.
Er zeigt Mentor das Heft
Die Wände sind rosafarben gestrichen, ein Herd steht in der Ecke, im Hintergrund läuft ein kleiner Fernseher, ein alter Computerbildschirm flimmert. Als der Vater die Zeitschrift zum ersten Mal sieht, schlägt er die Hände vors Gesicht, im Bewusstsein, dass eine Kamera auf ihn gerichtet ist, und sagt dann: „Ich bin schockiert. Mein Sohn – jeder kann ihn so sehen, mit einer Pistole in der Hand. Die Leute werden denken, wir seien Kriminelle, Diebe.“
Rexhep zeigt Mentor das Heft: Er wirkt unsicher, schüttelt den Kopf. Als das Foto geschossen wurde, war Mentor gerade mal vier Jahre alt. Heute, achtjährig, erinnert er sich nicht mehr daran. Am nächsten Tag wird seine Tante Shyhrete erzählen, Mentor habe in der Nacht wegen des Fotos geweint.
„Wir sind keine Verbrecher“, sagt Rexhep. Mentors jüngere Schwester Sinita lutscht an einem Plastikstängel, den sie zuvor in ein Tütchen Zucker gesteckt hat. Rexhep zeigt mit der Hand in den mit Teppichen ausgelegten Raum, der der fünfköpfigen Familie als Wohn- und Schlafzimmer dient: „Wir sind ehrliche, einfache Leute. Sie sehen ja, wie wir hier leben: Wir haben kaum zu essen, keine Arbeit, nichts.“
Im Jahr 2008 hatte der Italiener Livio Mancini als eingebetteter Fotograf der KFOR-Truppen die Romasiedlung bei Gjakova besucht und Mentor mit der Spielzeugpistole abgelichtet. Die Weltwoche verwendete Mancinis Bild als Illustration für ihre Titelgeschichte über kriminelle Roma in der Schweiz. Nur: Weder Mentor (der laut Weltwoche-Autor Philipp Gut als Symbol dafür stehe, „dass Roma-Banden ihre Kinder für kriminelle Zwecke missbrauchen“) noch dessen Familie haben das Kosovo je verlassen.
Der Slum, in dem Mancini Mentor fotografiert hat, existiert noch immer. Aber er hat sich verändert: Seit 2009 engagiert sich die Schweizer Caritas in Gjakova. Mit Mitteln aus der Schweiz, Österreich, Lichtenstein und dem Kosovo sowie der Stadt Gjakova und der Romagemeinde selbst betreibt sie hier ein Hilfsprojekt für die rund 800 Roma in der „Kolonie“, wie die BewohnerInnen die illegal gebaute Siedlung nennen.
Das Ziel: Umsiedlung und nachhaltige soziale Integration von rund 120 Familien. Insgesamt 120 Häuser sollen in drei Phasen gebaut werden: Die ersten 29 Häuser stehen schon, die nächste Bauetappe soll demnächst beginnen und bis Herbst abgeschlossen sein.
Lieblingsfach Zeichnen
Der achtjährige Mentor lebt mit seiner Familie am Ende der Siedlung, dahinter liegt eine große Wiese, ein ehemaliges Tabakfeld, und alle paar Meter nasse Kartons, zerrissene Säcke, rostende Büchsen. Gleich neben dem Haus befindet sich das offizielle Mülldepot K-Ambienti, wo Pet-, Plastik- und Papierabfälle sortiert, gepresst und gebündelt werden.
Die alte, illegale Deponie befindet sich am anderen Ende der Siedlung. Dort hätten die Kinder früher gespielt, sagt Rexhep, Mentors dreißigjähriger Vater. Aber seit einem Jahr besucht Mentor eine öffentliche Schule in Gjakova, keine zwanzig Gehminuten von der Kolonie entfernt. Zuvor hat er die Kita der Caritas in Ali Ibra besucht.
Mentor geht gern zur Schule, sagt er. Sein Lieblingsfach sei Zeichnen. Aber wenn es nach dem Vater geht, soll Mentor zu Hause bleiben. Rexhep sagt, er befürchte, dass Mentor gehänselt und als Krimineller beschimpft werde. „Über das Internet kann jeder das Bild betrachten und den Titel übersetzen.“ Die ganze Geschichte macht Rexhep wütend. Er sagt, er wolle wegen der missbräuchlichen Verwendung des Bildes Anzeige gegen die Verantwortlichen erstatten.
In Österreich, Deutschland und in der Schweiz wurden bereits verschiedene Klagen wegen Rassismus und Volksverhetzung gegen die Weltwoche eingereicht. Um selbst gerichtlich gegen die Schweizer Zeitschrift vorgehen zu können, benötigt Rexhep M. Hilfe, alleine wird er das kaum machen können, schon der Kosten wegen. Derzeit berät man in der Schweiz und in Deutschland, wie er unterstützt werden kann.
Rexhep M. erhält monatlich 75 Euro Sozialhilfe, allerdings nur noch zwei Monate lang, dann ist Schluss. Seine jüngste Tochter ist eben sechs geworden, und der Staat zahlt nur für Kinder bis fünf Jahre. Jeden Tag fährt Rexhep frühmorgens in die Stadt und sucht Arbeit – mit einem kleinen, offenen Gefährt, auf das hinten eine Kreissäge montiert ist. Manchmal erhält er einen Auftrag oder er hilft Kollegen.
So läppert sich ein wenig Geld zusammen. Mal verdiene er drei Euro am Tag, mal fünf, sagt Rexhep. Ein Arbeitskollege von Rexhep erzählt, dass es bisweilen mehr sei: Zehn, fünfzehn Euro an einem guten Tag. Der monatliche Durchschnittslohn im Kosovo beträgt etwa 200 Euro. Allerdings, sagt der Kollege, hätten sie meistens nur etwa zwei Tage pro Woche Arbeit. Trotzdem sagt Mentor, als er nach seinem Berufswunsch gefragt wird: „Ich will mit Holz arbeiten, wie mein Vater.“ Später findet Mentor Gefallen an Kamera und Notizblock. Seine Pläne haben sich geändert. Er sagt, er wolle „Gazetar“ werden: Journalist.
Am nächsten Tag besuchen wir Mentors Familie ein zweites Mal: Rexhep ist am Morgen mit seinem blauen Sägewagen in die Stadt gefahren. Viel Arbeit hat es nicht gegeben. Er sagt, er gehe später noch einmal. Aber jetzt will er durch die Siedlung spazieren, sein altes Haus zeigen. Übrig geblieben ist nur noch das Gemäuer, alles Brauchbare wurde abmontiert: Fenster, Türen, Schindeln auf dem Dach.
Vor zwei Jahren konnte Rexheps Familie das größere Haus eines Bekannten übernehmen. Jetzt haben sie neben dem Wohnzimmer auch ein Vorzimmer, das als eine Art Küche dient. Deshalb ist die Umsiedlung der Familie erst für die zweite, eher sogar für die dritte Bauphase geplant – in Ali Ibra gibt es viele Familien, die noch ärmer sind als die von Mentor.
Was soll ich hier?
Zum Beispiel Shyhrete, Rexheps Schwägerin. „Es ist total beschissen hier“, sagt sie auf Deutsch. Als einjähriges Baby nahmen sie ihre Eltern mit nach Deutschland. Sie hat ihre gesamte Jugend in der Nähe von Münster verbracht. Als sie volljährig wurde, schob man sie ab. Seit zwei Jahren ist sie in Ali Ibra. „Was soll ich hier? Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen, habe meine Ausbildung dort gemacht. Ich habe nie wirklich im Kosovo gelebt. Mit neunzehn musste ich dann hierher.“
Rexhep nimmt Shyhretes Kind auf den Arm. Es ist kreidebleich. „Nermin hat über 40 Grad Fieber. Er kann kaum atmen. Ich war vorhin mit ihm im Krankenhaus, da musste er an ein Inhalationsgerät. Aber wie soll ich das bezahlen? Mein Mann findet vielleicht zweimal im Monat Arbeit. Dann kriegt er ein paar Euro. Das reicht nicht. Schon das Milchpulver kostet ja fünf Euro.“
Es wird Abend, der Himmel ist in Grautöne zerrissen. Kinder wühlen in einem Abfallberg. Hier irgendwo muss das Foto von Mentor mit der Spielzeugpistole entstanden sein. Müllsammler vertreiben die Kinder. Ein kleines Mädchen bleibt stehen und zerrt an einem Babywagen, der im Müll steckt. Ein Arbeiter ruft ihr etwas zu, sie fasst den dreckigen Wagen mit beiden Händen, ein Ruck, sie zieht ihn heraus, schleppt ihn die Böschung hoch und verschwindet auf dem schlammigen Weg in Richtung der Ali-Ibra-Siedlung.
Schwarze Plastikfetzen hängen am Zaun. Tauben graben im Dreck. Ein ständiges Rascheln und Gurren und Hundebellen stört die Stille. Es riecht verfault. Dann regnet es, Dampfwolken stehen über den Abfallhaufen.
Der Text erschien zuvor in einer Langfassung in der Schweizer Wochenzeitung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod