Essstörungen: Heilsame Wohngemeinschaft

In einer betreuten WG in Lichterfelde wohnen Mädchen, die unter Magersucht leiden - das gemeinsame Essen gehört dabei zu ihrem Alltag.

Gemeinsames Essen ist wichtig. Bild: DAPD

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die helle Altbauwohnung in Lichterfelde kaum von anderen WGs – und doch ist sie etwas Besonderes. „Es war der erste Ort seit vielen Jahren, an dem ich mich natürlich verhalten konnte, ohne Gelächter, Strafe oder emotionale Verletzungen befürchten zu müssen.“ So beschreibt es Gabriele* in einem Brief an die Wohngemeinschaft „Bitter und Süß“. Fast zwei Jahre hat sie hier verbracht.

Ein neues Zuhause sein für Menschen, die in ihrem alten Zuhause nicht oder nur schwer gesund werden können – das ist die Idee der betreuten WGs für Essgestörte, die vom Jugendhilfe-Träger „Nachbarschaft hilft Wohngemeinschaft“ (NHW) betrieben werden. 2006 eröffnete die erste, teilzeitbetreute WG mit fünf Plätzen, seit dem vergangenen Jahr gibt es eine zweite Fünfer-WG, in der die BetreuerInnen rund um die Uhr anwesend sind. Das Angebot richtet sich vor allem an jüngere Menschen und solche, deren Essstörung noch zu stark ist, als dass sie nachts alleine bleiben könnten.

Am Küchentisch der betreuten WG sitzen Emma* und Ronja*, momentan die einzigen Bewohnerinnen. Die beiden ziemlich erwachsen wirkenden 17-Jährigen sind nicht nur Mitbewohnerinnen, sondern in der gemeinsamen Wohnung auch Freundinnen geworden, die öfter mal in einen gemeinsamen Lachanfall ausbrechen. Emma, dunkelhaarig in Jeans und T-Shirt, war die erste Bewohnerin der neuen WG. Ronja, deren zierlicher Körper von einem weiten Pullover verdeckt ist, kam vor drei Monaten dazu. Seitdem meistern sie ihren Alltag gemeinsam mit den BetreuerInnen und einer Ernährungsberaterin, die fast jeden Nachmittag kommt.

Die beiden Mädchen sprechen sehr ruhig über ihr Leben in der WG und über ihre Krankheit, auch wenn sie bestimmte Fragen lieber nicht beantworten möchten – etwa über ihre Familie oder Erfahrungen in der Schule. Beide haben Anorexia nervosa, also Magersucht, eine der häufigsten psychosomatischen Essstörungen. Seit sie in der WG wohnen, geht es beiden besser – den strukturierten Alltag und die enge Betreuung empfinden sie als heilsam. Nur ihre engsten Freunde wissen von ihrer Krankheit. Als Ronja neulich eine Referatsgruppe aus der Schule in die WG eingeladen hatte, sei sie immer allein in die Küche gegangen, um Gläser zu holen, erzählt sie. Die dort ausgehängten Essenspläne waren ihr peinlich. „Die denken, das ist hier eine ganz normale WG“, sagt sie und schaut dabei auf ihre Hände.

„Mein Ziel ist es, gesund zu werden. Das geht mit anderen zusammen besser als alleine“, erklärt Ronja ihre Entscheidung, in die WG zu ziehen. Neulich habe sie zum Beispiel mit Emma zusammen einen Apfelkuchen gebacken – eine Aufgabe, die sie sich alleine kaum zugetraut hätte. Zusammen backen ist nur eine von vielen gemeinsamen Aktivitäten in der WG: Es gibt Gruppenabende, an denen BetreuerInnen und BewohnerInnen nicht nur Organisatorisches besprechen, sondern sich auch über ihr Befinden austauschen. Auch Ausflüge unternimmt die WG – einmal im Monat gehen alle zusammen essen.

Besonders wichtig: Die Mahlzeiten finden gemeinsam und zu festgelegten Zeiten statt. „Geregelte Mahlzeiten in Ruhe und ohne Stress sind für den Heilungsprozess unverzichtbar“, sagt Friedrich Dreier, der die WG von Anfang an betreut und außerdem für die Koordinationsarbeit zwischen den beiden WGs und den BetreuerInnen zuständig ist. Gemeinsam mit der Ernährungsberaterin erstellen die BewohnerInnen für jede Woche einen Essensplan, in dem genau festgelegt ist, was und wie viel zu welchen Mahlzeiten gegessen wird. Jede Bewohnerin ist einmal in der Woche fürs Einkaufen und Kochen zuständig – auch eine Herausforderung. „Wir reden hier die ganze Zeit nur übers Essen“, erzählt Ronja, „aber eigentlich geht es in der WG auch noch um ganz viele andere Dinge.“ Zum Beispiel darum, Beziehungen aufzubauen und Selbstvertrauen zu gewinnen – aber natürlich, wie in jeder anderen WG, auch ums Badputzen oder die Frage, wie viel in die Haushaltskasse eingezahlt werden soll.

Trotzdem: Kann es nicht auch kontraproduktiv sein, wenn Essgestörte zusammen wohnen und ständig über Ernährungspläne und Portionsgrößen reden? Wird das Thema Essen dadurch vielleicht nicht noch größer, als es ohnehin schon ist? Auf diese Frage hat Emma eine entschiedene Antwort: „Als Essgestörte kreisen deine Gedanken sowieso permanent um dieses Thema. Wenn ich aber einmal die Woche einen Essensplan mache, muss ich nicht jeden Tag wieder neu darüber nachdenken, was ich heute zu mir nehme. Dann hab ich auch Zeit für andere Sachen“, sagt sie.

Das ist eine der Ideen hinter dem Konzept der WG: Die Fixierung des Denkens auf die Krankheit aufzulösen, durch geregelte Tagesabläufe und ein enges Miteinander. Eine andere Idee basiert auf der Erkenntnis, dass Essstörungen in vielen Fällen Familienkonflikte zugrunde liegen. Eine Heilung im familiären Umfeld ist deshalb oft kaum möglich. Die meisten BewohnerInnen haben bereits einen Klinikaufenthalt oder mehrere hinter sich, sagt Friedrich Dreier. Dort sind die PatientInnen meist weit weg von ihren Familien, und es gibt einen sehr geregelten Tagesablauf. „An dieses Angebot wollen wir mit unserer WG anknüpfen, damit die Erfolge, die möglicherweise in der Klinik erzielt werden, nicht gleich wieder verloren gehen.“

Nicht immer klappt das, wie der Blick in die beiden momentan leerstehenden Zimmer der WG zeigt: Die Bewohnerin, die hier noch vor kurzem wohnte, hatte zuletzt einen Body-Mass-Index von unter 16. „Da ist das gesundheitliche Risiko zu groß, als dass sie noch in einer WG wohnen könnte“, erklärt Dreier. Das Mädchen zog zurück zu seiner Familie, denn in eine Klinik wollte es nicht. Das andere Zimmer steht hingegen hoffentlich nur zwischenzeitlich leer: Seine Bewohnerin ist zurzeit in der Klinik, soll nach dem Aufenthalt aber wieder in die WG einziehen.

Eineinhalb bis zwei Jahre bleiben die BewohnerInnen im Schnitt in der WG – auch Ronja und Emma können sich gut vorstellen, so lange hier wohnen zu bleiben. Doch auch danach kann der Kontakt zu den Bewohnerinnen bestehen bleiben: Zum jährlichen Sommerfest kämen viele der 40 ehemaligen BewohnerInnen der beiden WGs, erzählt Dreier. Viele von ihnen leben mittlerweile in eigenen Wohnungen oder Wohngemeinschaften. Aber auch, wenn ein Ernährungsplan irgendwann nicht mehr nötig ist – gemeinsam zu essen, statt zwischen Tür und Angel etwas herunterzuschlingen, bleibt für viele unverzichtbar.

* Name geändert

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.