Die Wahrheit: Halbtoter Hornhaufen
Die Wahrheit-Woche der Narben: Zeh ohne Nagel Nummer zwanzig.
Ich habe nur neunzehn Nägel. Der zwanzigste ist eine Narbe. Vorab eine Warnung an alle Ästheten und Fußfetischisten: Lecker ist das nicht, was ich hier gleich beschreibe, auch wenn es keine Geschlechtskrankheit ist, sondern nur ein Pilz. Den kann man sich auch als reinlicher Mensch in den besten Hotelzimmern und Schwimmbädern einfangen. Ein Fußpilz von der Sorte, der den Nagel unterwandert, ihn dunkel und brüchig werden lässt. Da hilft auch keine Salbe, nur Kapitulation.
Der halbtote Hornhaufen hing lose am rechten großen Zeh. Eines Tages vor ein paar Monaten löste er sich beim Abtrocknen von meinen ansonsten ganz appetitlich aussehenden Füßen. Neun Zehen glänzten mit schwarzem Nagellack, doch einer war kahl und hässlich, als ob sein kleines Gesicht amputiert worden war. Der Anblick dieses fremden Nacktmulls am äußersten Ende meines Körpers war verstörend. Ich wickelte erst mal ein Pflaster darum. Es fühlte sich alles roh und empfindlich an.
Zugepflastert kam ich eine Weile über die Runden. Dann stand ein Kurzurlaub mit Freundinnen in einem australischen Hippie- und Surferkaff an. Wer in Byron Bay nicht barfuß läuft, trägt Flip-Flops. Mehr Fußbekleidung käme einer Burka gleich. Ich wollte dort auch Yoga und anderen Selbsterfahrungskram machen, aber nicht in Socken. Also besuchte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Nagelstudio. Künstliche Krallen, so dachte ich mir, muss es doch auch für untenrum geben.
Es roch unglaublich in dem kleinen Salon. Nach Giftmülldepot und Chinarestaurant, denn die koreanischen Damen gönnten sich gerade ihr Mittagessen. Süßsaures Hühneraroma waberte durch toxische Lösungsmitteldämpfe. Ich wurde auf einen Massagestuhl gesetzt, der einem von unten und hinten angeblich eine Massage verpasst, aber vor allem laut vibriert, während die Füße in einem kleinen Becken einweichen. Von einem langen Stück milchigem Plastik schnitt eine der Damen mit der Zange ein Stück ab. Das sollte mein neuer Nagel werden. Sie feilte am Fuß herum – elektrisch, wie beim Zahnarzt –, klebte das Plastikstück auf, ließ es trocknen, feilte noch mal rum und lackierte es. Zehn Dollar, und keine halbe Stunde später hatte ich wieder einen Nagel. Fühlte sich an wie echt, sah aus wie echt, eigentlich noch echter als der Nagel am anderen großen Zeh. „Er wird nicht lange halten“, warnte mich die Pediküristin und schlug vor, ein paar „kleine Glitzerdekorationen“ darauf zu kleben. „Ist so viel hübscher!“
Die ersten Tage im Strandort waren prima. An einem Abend tanzten wir Yogagöttinnen ausgelassen unter freiem Himmel. Bis mein Blick nach unten fiel und ich sah, dass mein gefakter Nagel nicht mehr da war. Ich wusste, dass ich das letzte Lied mit intakten Fußspitzen begonnen hatte. Panik stieg in mir auf: Irgendwo hier muss er liegen! Wenn da jemand drauftritt und ihn zerbricht! Oder gar gesehen hat, wie er von mir abfiel! O Horror, o Peinlichkeit. Zum Glück entdeckte ich das Teil im Halbdunkel am Rande der Tanzfläche. Milchigweiß lag es da, mit alten Kleberesten. Meine kleine Prothese. Schnell steckte ich sie ein. Der Abend war gelaufen. Tanzen ging jetzt nicht mehr.
Mit Sekundenkleber rettete ich mich über die letzten Urlaubstage. Aber einmal muss mir der Nagel nach dem Duschen abhanden gekommen sein. Zum Glück fand ich ihn, indem ich akribisch den Badezimmermülleimer durchwühlte – wahrlich keine Freude bei drei Mitbewohnerinnen, die dort viel Unaussprechlicheres entsorgten.
Mittlerweile ist einiges an gesundem Nagel nachgewachsen, aber verkrüppelt und vernarbt – wahrscheinlich vom Anschleifen im Nagelstudio. Es ist Winter in Neuseeland, ich muss meine nackten Füße nur selten zeigen. Aber wenn der Sommer kommt, dann ist die Zeit der Scham vorbei. Dann klebe ich Glitzerdeko darauf.
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