Musterhaus im Besetzerkiez

Viele der ehemals besetzten Häuser haben keinen dezidiert politischen Anspruch mehr. Die K 9 in Friedrichshain bildet eine Ausnahme: Sie ist ein Treffpunkt der linken Szene

Jede Wochefinden mindestens zwei politischeVeranstaltungen statt

Der politische Charakter der Kinzigstraße 9 ist nicht zu übersehen: „Stoppt die Deportation von Flüchtlingen“, steht in meterhohen Buchstaben fein säuberlich gepinselt an der Wand des fünfstöckigen Hauses in Friedrichshain. 32.000 Abschiebungen gebe es jährlich, 1,5 Millionen Menschen seien in die Illegalität gedrängt, ist darunter geschrieben. „Zumindest die Zahlen wollen wir schon seit Monaten aktualisieren“, sagt Bewohnerin Judith Mesel. Aber seit das Baugerüst verkauft ist, müsste man sich mit einem Seil an der Fassade herunterhangeln. Dazu aber habe sich noch niemand bereit gefunden, sagt die 31-Jährige.

So bitter es klingt: Viele einst besetzten Häuser mit explizit politischem Anspruch gibt es nicht mehr. Weder aus den 80er-Jahren der Westberliner Hausbesetzerbewegung, noch aus der Zeit Anfang der 90er im Ostteil der Stadt. Die Kinzigstraße 9, in der linken Szene besser bekannt unter dem Kürzel „K 9“, bildet eine Ausnahme.

„Der Grund sind die Veranstaltungsräume“, sagt Bewohner Peter Burgau. Als 1998 die Grundsanierung anstand, einigten sich die damals noch 18 verbliebenen BewohnerInnen, die beiden Veranstaltungsräume um jeden Preis zu erhalten – einer im Erdgeschoss und ein schallgedämmter Saal im Keller für Soli-Partys und Musikgruppen. Dies hat sich bewährt, sagt Burgau. Denn es vergehe keine Woche, in der nicht mindestens zwei politische Veranstaltungen im Hause stattfinden. Und es gebe Zeiten, da könne man sich vor Anfragen kaum mehr retten. Mit den Räumen trage die K 9 dazu bei, die verzweigte linke Szene miteinander zu vernetzen.

36 BewohnerInnen zählt das knapp 600 Quadratmeter große Anwesen. Vorne im Haus ist die Kneipe „Liberacion“ untergebracht, der einstige Lagerschuppen im Innenhof ist zum Gästehaus umfunktioniert, und im Hinterhaus befinden sich neben den zu Groß-WGs umgebauten Wohneinheiten die beiden großen Veranstaltungssäle.

Die ehemalige Tischlerei, bis zum Ende der NS-Zeit Wurst- und zu DDR-Zeiten dann Lederwarenfabrik, sollte nach Plänen aus den 80er-Jahren abgerissen und durch Plattenbauten ersetzt werden. Das Nachbarhaus war bereits gesprengt. Doch am 4. August 1990 besetzten einige Dutzend Autonome aus einer Demonstration heraus das Gebäude. Der Grund für die Aktion mitten im damaligen Eldorado der Ostberliner Hausbesetzerbewegung war nicht nur die drohende Sprengung, sondern auch die großen Räume im Seitenflügel. Hier tagte bis zur Räumung der Mainzer Straße am 14. November der Berliner BesetzerInnenrat.

Dabei gab es auch Zeiten, als die K 9 in der linken Szene sehr umstritten war. Anfang 1991 wurde das Haus vor allem von Punkern bewohnt und erlangte als „härtestes Punkhaus Deutschlands“ große Bekanntheit. Ein Jahr später zog eine Besetzergruppe aus dem Umfeld der geräumten Häuser in der Mainzer Straße in den Seitenflügel. In den folgenden Jahren gab es zwei Fraktionen in der K 9, die sich zum Teil massiv bekämpften. Während die BewohnerInnen des Seitenflügels sich bei der senatseigenen Wohnungsbaugesellschaft zügig um Mietverträge bemühten, wollten die Punker im Vorderhaus den Besetzer-Status beibehalten. 1996 dann wurde das Vorderhaus geräumt.

Zwei Jahre später kauften die 18 verbliebenen BewohnerInnen des Seitenflügels das gesamte Gebäude. 200.000 Mark Eigenkapital mussten sie aufbringen, um ins Förderprogramm „bauliche Selbsthilfe“ des Senats aufgenommen zu werden. Die K 9 war inzwischen so marode, dass sie teilweise als einsturzgefährdet galt. Geschätzter Sanierungsaufwand: 6,1 Millionen Mark. Kurz nach dem Kauf meldete die Punkerfraktion Ansprüche an. Zu einer Einigung kam es nicht. Es folgten noch einige böse Flugblätter über die „Linksspekulanten“, die die neuen Eigentümer aber geflissentlich ignorierten.

Seit 2001 sind die Bauarbeiten beendet. Nach wie vor ist die K 9 ein selbst verwaltetes Projekt: Alle 36 BewohnerInnen entscheiden beim wöchentlichen Plenum über die Belange des Hauses und die Nutzung der öffentlichen Räume. Eine umfangreiche Aufgabe: Antirassistische Initiativen und Antifa-Gruppen tagen hier regelmäßig, genauso ein Jugendaustauschprojekt und Gruppen, die gemeinsam mit Nachbarn eine nahe gelegene Brachfläche gestalten. „Kiezarbeit ist uns sehr wichtig“, sagt Judith Mesel. Mit Erfolg: Gab es in den Anfangsjahren große Skepsis gegenüber den „Autonomen“, sind die BewohnerInnen nun weitgehend akzeptiert. Eine Nachbarin vom Plattenbau gegenüber feierte jüngst ihren 80. Geburtstag – in der Veranstaltungsetage der K 9. FELIX LEE