Kreuzberger Bilanzen sind lang

taz-Serie „1980, 1990 – besetzte Zeiten“ (Teil 4): Es waren Hausbesetzer, die die behutsame Stadterneuerung in Berlin voranbrachten. Heute wird die Bilanz der Sanierung zunehmend in Zweifel gezogen. Zu groß sind die Probleme in „sozialen Brennpunkten“. Aber was wäre die Alternative gewesen?

von UWE RADA

Normalerweise geht die Bilanz des Kreuzberger Sanierungsgeschehens so: Abkehr von der Kahlschlagsanierung plus Hausbesetzerbewegung macht zusammen behutsame Stadterneuerung. Kreuzberg wurde zum Modell des Westberliner Sanierungsgeschehens und Westberlin zum europäischen Mekka im Umgang mit bislang vernachlässigten Altbauquartieren.

Umso erstaunlicher war es, als einer der Protagonisten der behutsamen Stadterneuerung vor fast zehn Jahren eine völlig gegenteilige Bilanz gezogen hat. In Kreuzberg, schrieb der Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm 1997 in der taz, „hat man sich an eine Welt gewöhnt, in der viel Geld für Mieterberater, Sozialplaner und Architekten ausgegeben wurde“. Hoffmann-Axthelms Fazit: „Man hat sich unmerklich abgewöhnt, selber verantwortlich zu sein, mietspiegelgerechte Mieten zu zahlen, Risiken ohne Sozialplan einzugehen wie in Lankwitz oder Reinickendorf.“

Dieses geradezu vernichtende Urteil sollte im Jahr darauf noch bestätigt werden. In einem vom damaligen Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) in Auftrag gegebenen Gutachten kamen die Stadtsoziologen Hartmut Häußermann und Andreas Kapphan zu einem wenig schmeichelhaften Ergebnis. Vor allem in den Westberliner Innenstadtbezirken sei „eine zunehmende soziale Entmischung der Bevölkerung“ zu beobachten. Nicht nur das soziologische Modewort von der Segregation war plötzlich in aller Munde, sondern auch der bis dahin weitgehend tabuisierte Begriff vom sozialen Brennpunkt. Manch einer, wie der damalige CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky, forderte sogar, diese Brennpunkte ein für alle Mal abzureißen.

Vorläufiger Höhepunkt auf dem Negativkonto der Sanierungsbilanzen war dann der 11. September 2001. Zum sozialen Brennpunkt kam das Wort von der Parallelgesellschaft. So stellte sich also endgültig die Frage: Ist von den 2,5 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln, die alleine in Kreuzberg für die Sanierung ausgegeben wurde, nichts anderes geblieben als Armut, Rückzug und religiöser Fanatismus?

Nein, sagt dazu der Architekt und Stadtplaner Erhart Pfotenhauer: „Kreuzberg war schon immer arm. Es wäre deshalb falsch, der Stadterneuerung anzulasten, dass es immer noch arm ist.“

Tatsächlich war es die Politik der Kahlschlagsanierung, die in den 60ern und frühen 70ern Kreuzbergs SO 36 zum Auffangbecken für die vier A machte, wie man es damals nannte – Arme, Arbeitslose, Alte, Ausländer. Weil wegen einer gigantischen Autobahnplanung alle Straßen zwischen Wassertorplatz und Oranienplatz auf Abriss standen, durften nur diejenigen hierher, die man gleich darauf wieder hätte weiterschicken können. So entstand, was man erst 20 Jahre später als sozialen Brennpunkt bezeichnen durfte.

Dass Anwohner, Bürgerinitiativen und ab 1979/1980 auch Hausbesetzer die Kahlschlagsanierung gestoppt haben, wertet Pfotenhauer auch noch heute als Erfolg. „Wäre das mit Abriss und Neubau so weitergegangen, sähe heute ganz Kreuzberg aus wie am Kottbusser Tor“, sagt er. „Dann würden wir heute nicht über soziale Brennpunkte reden, sondern hätten Verhältnisse wie in der Pariser Banlieue.“

Aber auch Pfotenhauer räumt ein, dass bestimmte Themen im Sanierungsgeschehen zu wenig Aufmerksamkeit gefunden hätten. „Vielleicht haben wir uns damals zu sehr auf die bauliche Erneuerung konzentriert und zu wenig auf Bildung oder lokale Beschäftigungsinitiativen.“

Der Stadtplaner und Kreuzbergkenner Pfotenhauer spricht damit an, was seit dem „Häußermann-Gutachten“ als Gemeingut gilt – der Blick auch auf die „weichen Themen“ der Sanierung. Nicht umsonst trug das Gutachten des Stadtsoziologen nicht mehr den Titel „behutsame Stadterneuerung“, sondern „soziale Stadtentwicklung“. Und zu dieser zählt auch, was Häußermann „Empowerment“ nennt: Der Versuch, die Menschen zu ermuntern, eben nicht in Bewegungslosigkeit zu verharren, sondern die Dinge in die eigene Hand zu nehmen.

Dieses Empowerment hat seitdem einen Namen: Quartiersmanagement. Anfangs von vielen aus der Stadterneuerungsszene argwöhnisch beäugt und als „Tropfen auf dem heißen Stein“ belächelt, gehört die Arbeit der Quartiersmanager heute nicht nur in Kreuzberg zum Alltag. Und siehe da: Sie ist auch weitaus kostengünstiger als die aufwändige Förderung privater Eigentümer durch die zahlreichen Sanierungsprogramme.

Hat Hoffmann-Axthelm also Recht behalten? Ist weniger tatsächlich mehr? Mehr Beweglichkeit, mehr Kreativität, mehr Entlastung für den Haushalt?

Nein, sagt dazu einmal mehr Architekt Erhart Pfotenhauer. „In den sanierten Quartieren ist die Fluktuation geringer und die soziale Situation damit stabiler als in den unsanierten Quartieren.“

Soll bilanztechnisch also heißen: Sanierung ist nicht alles, aber ohne Sanierung ist alles nichts. Auch nicht das Quartiersmanagement.